Autor: Amerio, Romano Buch: Iota Unum Titel: Iota Unum Stichwort: Krisen der Kirche; Syllabus 3, Enzyklika Humani generis
Kurzinhalt: Der Irrtum, der einst von außerhalb kam, stammt jetzt aus dem Innern der Kirche her. Es ist kein Ansturm der Außenwelt mehr, sondern innerliche Verderbnis, ...
Textausschnitt: 27. Die vorkonziliare Krise und der dritte Syllabus
43a Mit diesem kurzen geschichtlichen Ausblick wollten wir die vorausgegangenen Krisen der Kirche summarisch aufzeigen. Fast ganz unberücksichtigt bleiben die politischen Begleitumstände dieser Krisen, auch äußern wir uns nicht zu den gesellschaftlichen Rückwirkungen und streifen lediglich die disziplinarischen Veränderungen, weil die Disziplin der Kirche sich von der Lehre herleitet. (Fs)
43b Bei unserer Untersuchung über die Krisen der Kirche haben wir herausgefunden, daß sie nur eintreten, wenn sich in der Kirche selbst, nicht in der Welt, ein Widerspruch gegen das die Kirche tragende und lenkende Prinzip erhebt. Ein Widerspruch dieser Art, der das grundlegende Element trifft, ist die Konstante (wie die Mathematiker sagen) aller Krisen. Ebenso wie der erste Syllabus die in der Welt vorgebildete Krise aufzeigte und dann Pius X. zu Beginn des Jahrhunderts dies tat, als sie erstmals auf die Kirche und in ihr vordrang, so wurde die Krise auch von Pius XII. im dritten Syllabus aufgezeigt, als sie sich in der Mitte des Jahrhunderts im Innern der Kirche weiter ausgebreitet hatte. Der dritte Syllabus ist die Enzyklika Humani generis vom 12. August 1950. Sie stellt mit den Texten des II. Vatikanischen Konzils die Hauptakte der kirchlichen Lehraussage nach Pius X. dar. (Fs)
43c Natürlich gibt es im Werdegang des sensus communis der Kirche der Erinnerung verhaftete Momente, die bestimmte Teile des Glaubensgutes im Brennpunkt der Aufmerksamkeit festhalten, sowie Momente des Vergessens, die vom Brennpunkt ablenken und auch andere Teile des katholischen Systems in die Dunkelheit verbannen1. Dies bewirkt die beschränkte Zielgerichtetheit des Geistes, der nicht allzeit bei allem verweilen kann, sowie die daraus folgende Tatsache, daß die Aufmerksamkeit lenkbar ist. Auf diese wesentliche Tatsache stützt sich die Kunst der Erziehung und - viel weiter unten, ja ganz unten angesiedelt - die Kunst der Propaganda. Da die Lenkbarkeit nun einmal, so wie die Menschen geartet sind, als etwas Notwendiges da ist, kann man sie weder bedauern noch beseitigen. Es ist jedoch geboten, daß dieser relative Zustand der Vergessenheit, in den einige Artikel des katholischen Systems geraten, nicht vollends zu deren Tilgung führt. Die geschichtlichen Abläufe bringen es mit sich, daß bald dieser, bald jener Aspekt herausgestellt oder ins Dunkel gerückt wird; aber nicht aufgrund der Tatsache, daß er ins Licht gerückt wird, ist der eine oder andere Aspekt im Bewußtsein der Kirche vorhanden, ebensowenig wie der eine oder andere Aspekt gänzlich abhanden kommen könnte aufgrund der Tatsache, daß er ins Dunkel gerät. (Fs)
44a Neigt das allgemeine Empfinden der großen Mehrheit dazu, gewisse Wahrheiten ein Schattendasein fristen zu lassen, so ist es erforderlich, daß die lehrende Kirche sie mit aller Macht bewahrt und somit das katholische System in allem und jedem voll und ganz erhält, selbst wenn dieses oder jenes Teilstück dem Empfinden der Masse kaum noch zugänglich ist. Wenn nun gegenwärtig die drei Syllabi unleugbar in den Hintergrund getreten sind, kann diese Tatsache ihnen nicht die außerordentliche Eigenschaft nehmen. In diesem Zusammenhang sei betont, daß die Gleichartigkeit und Stetigkeit der päpstlichen Verlautbarungen in den Augen der Neuerer der größte Fehlgriff ist, denn mit dieser Beharrlichkeit stemme sich die Kirche gegen den Fortschritt. Die Kirche aber ist in einer zeitlosen Wahrheit verankert, und mit dieser beurteilt sie die Zeiten. Die Formel der Kirche lautet bis in idem, ja sogar pluries in idem, und vollends semper in idem, weil die Kirche in ständiger, unzerstörbarer Verbindung mit dem Prinzip steht, und wenn sie die wandelbaren geschichtlichen Umstände nach Maßgabe des Prinzips beurteilt, ist dieses, und nicht die kontingenten Umstände, ihr Anliegen. (Fs)
28. Die Enzyklika »Humani generis« (1950)
44b Im Titel der Enzyklika erregt der thetische, entschiedene Stil, der sich nicht der in anderen Lehrdokumenten üblichen zurückhaltenderen Wendungen bedient, sogleich die Aufmerksamkeit. Statt des »non videntur consonare« (»scheinen nicht übereinzustimmen«) oder ähnlicher Formeln (die allerdings auch hier zum Thema Polygenismus vorkommen) wird gleich von vornherein angekündigt, daß man auf falsche Ansichten abziele, »die die Grundlagen der katholischen Lehre zu untergraben drohen«1. Die Lage ist bedrohlich, eine Zerrüttung zeichnet sich ab, und angesichts der echten Bedrohung lautet es nicht »subruere videntur« (»scheinen zu untergraben«), sondern ohne Umschweife »subruere minantur« (»drohen zu untergraben«). Die Irrtümer schädigen die katholische Wahrheit, auch wenn sie deren Zerrüttung nicht zuwege bringen. (Fs)
45a In der Präambel des Verzeichnisses wird ein Wesenszug der Krise berührt, der ihren Grad verdeutlicht und ihre Neuartigkeit zum Ausdruck bringt. Der Irrtum, der einst von außerhalb kam, stammt jetzt aus dem Innern der Kirche her. Es ist kein Ansturm der Außenwelt mehr, sondern innerliche Verderbnis, kein Versuch mehr, die Kirche zu zerstören, sondern nach dem berühmten Ausspruch Pauls VI. Selbstzerstörung der Kirche. Indes dürften falsche Ansichten in der Kirche keinen Raum finden, weil die menschliche Vernunft, unbeschadet ihres natürlichen Vermögens, hienieden von der Offenbarung stets gefestigt und erweitert wird. Jedoch liegt in der Forderung nach Unabhängigkeit von der Offenbarung das prOton pseudos, die Anfangslüge, und die in der Enzyklika beschriebenen Irrtümer sind lediglich deren Formen, oder genauer, deren Namengebungen. So bringt der für die moderne Geisteshaltung wesentliche Pyrrhonismus vor, unsere Erkenntnis erfasse nicht das Wirkliche, sondern stelle lediglich veränderliche Bilder einer immer flüchtigen Wirklichkeit her. Diese Art Erkenntnis ist unabhängig von der Wahrheit. (Fs)
45b Auch die Existenzphilosophie stützt sich auf das Prinzip der Unabhängigkeit. Die existenten Dinge stehen in keiner Beziehung zu Essenzen, die ihnen voraus sind und an der Absolutheit des göttlichen Seins teilhaben, dessen Gedanken sie sind. Die Enzyklika brandmarkt die moderne Geisteshaltung, nicht, weil sie modern ist, sondern insofern sie sich anmaßt, von jenem firmamentum, jener Stütze unwandelbarer Werte, abzugehen, um ganz und ausschließlich bei der Existenz zu verweilen. Diese Geisteshaltung läßt sich selbst bei Richtigstellungen nicht in Einklang mit dem katholischen Dogma bringen (Denzinger 2323). (Fs)
45c Die folgenden Artikel erklären die Herkunft der übrigen Irrtümer, die sämtlich mit dem Irrtum von der Unabhängigkeit der Kreatur in Verbindung gebracht werden. Der Historismus, der den Gedanken von der Loslösung der Existenz von der Essenz vertritt, kann die Wirklichkeit nur in einer ständigen Bewegung finden und führt zu einem umfassenden Mobilismus. Leugnet man nämlich das gerade von den Essenzen gebildete, jenseits des Zeitlichen befindliche Element alles Zeithaften, löst sich das Sein im Werden auf, da jede unauflösbare Grundlegung, die sogar notwendig wäre, um das Werden selbst begrifflich zu fassen, zum Verschwinden gebracht worden ist (Denzinger 2323). (Fs)
46a Auch die Verurteilung des Sentimentalismus (Denzinger 2324) ist nichts anderes als eine Verurteilung des Gefühls, wofern es nicht in die Ganzheitssicht des Menschen gestellt wird. In der Tat besteht im Innersten des Menschen eine wesenhafte Beziehung zu seiner Vernunft, und im Innersten der Vernunft ist eine Essenz, die zwar geschaffen ist, aber am Absoluten teilhat. Der Ursprung des Pyrrhonismus, der Existenzphilosophie, des Mobilismus und des Sentimentalismus aus dem Prinzip der Unabhängigkeit, das im Gegensatz zum katholischen Prinzip steht, macht den theoretischen Kern des Dokuments Pius' XII. aus. Die Verwerfung einzelner, vom prOton pseudos abgeleiteter Irrtümer, als da sind die Ablehnung der Metaphysik (sei sie thomistisch oder nicht), der allgemeine Evolutionismus, die liberale Bibelkritik, der religiöse Naturalismus und die anderen spezifisch theologischen Irrtümer (unter den größten die Ablehnung der Transsubstantiation) sind nur zweitrangig und beiläufig. Als solche muß man sie ansehen, beabsichtigt man auszumachen, wo das ureigentliche Prinzip des Katholizismus beeinträchtigt worden ist. Dieses Prinzip besagt die Abhängigkeit der gesamten Anthropologie vom Göttlichen; verneint man jedoch diese Abhängigkeit, so wird die Grundlage jeder Axiologie beseitigt, wie das Dokument aussagt (Denzinger 2323). (Fs)
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