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Autor: Amerio, Romano

Buch: Iota Unum

Titel: Iota Unum

Stichwort: Krisen der Kirche; die modernistische Krise - der zweite Syllabus; Modernismus; Dekret Lamentabili, Enzyklika Pascendi; Kirche - moderne Kultur - Naturwissenschaft

Kurzinhalt: Aus dem Vergleich beider ergibt sich, daß kein Gleichheitszeichen zwischen moderner Kultur und wahrer Wissenschaft gesetzt ist. Die Kirche trennt moderne Kultur und wahre Wissenschaft voneinander, ...

Textausschnitt: 26. Die modernistische Krise. Der zweite Syllabus

40a Die im ersten Syllabus aufgezeigte Krise war eher eine Krise der Welt als der Kirche. Der spätere Syllabus, der das Dekret Lamentabili vom 8. Juli 1907 und die Enzyklika Pascendi vom 8. September 1907 umfaßt, zeigt dagegen eine Krise der Kirche auf. Bereits im Titel wird der Unterschied zwischen dem Dokument Pius' X. und Pius' IX. deutlich erkennbar. Pius IX. listet die Hauptirrtümer unseres Zeitalters auf, »praecipuos nostrae aetatis errores«, Pius X. dagegen zeigt die Irrtümer der Modernisten bezüglich der Kirche, der Offenbarung, Christus und der Sakramente, »errores modernistarum de Ecclesia, revelatione, Christo et sacramentis«, auf. Jede Philosophie enthält virtuell eine Theologie. Was an rein Theologischem in der Lehre Pius' X. Gegenstand der Betrachtung ist, ist die ausgereifte Frucht der im ersten Syllabus angeprangerten Philosophie der Unabhängigkeit. Dem Unterschied im Titel entspricht die Andersartigkeit der 65 verurteilten Sätze. Sie betreffen nicht mehr eine der Welt eigene, noch außerhalb der Kirche waltende Geistigkeit, sondern just das schädliche Einwirken auf den katholischen Nous, nicht mehr die abgegliederten Teile eines Systems, sondern eher den all seinen Teilen innewohnenden Geist. (Fs)

40b Es wird auch von daher klar, daß, wie die Enzyklika hervorhebt, der Modernist »mehrere Personen darstellt und sie sozusagen in sich miteinander vermengt«1, da er zugleich Historiker, Philosoph, Gläubiger, Theologe, Kritiker, Apologet und Reformator ist. Was die Vielzahl der Personen anbelangt, zielt Pius X. meines Erachtens nicht auf ein von Doppelzüngigkeit oder Heuchelei bestimmtes moralisches Fehlverhalten (Vielzahl der Masken) ab, wenngleich irgendwie Spuren einer Arglist wie die des Achitophel (2. Sam. 15,12ff.; 1. Chron. 27,33f.) bei einigen Verfechtern jener Doktrinen sichtbar werden (wohl etwa bisweilen nicht auch bei den Gegnern?). Ich halte diese Vielzahl von Personen oder Gesichtern vielmehr für den Beweis dafür, daß das Dokument eben keine vereinzelten Glieder verdammt, sondern einen Geist, welcher letztlich der Geist der Unabhängigkeit ist. (Fs)

40c Wir verfahren wieder so wie mit dem ersten Syllabus, prüfen also einige Hauptartikel, um zu erkennen, daß gerade dieser Geist im Dokument verurteilt wird. Mit Satz 59 (Denzinger 2059) wird der Irrtum verworfen, wonach der Mensch die keinem Werden unterworfene geoffenbarte Wahrheit von seinem im Werden begriffenen Urteil abhängig macht, indem er die Wahrheit der Geschichte unterordnet. Eine solche Beschränkung der Wahrheit auf das fortschreitende menschliche Befinden, das in der Religion Vorgegebenes wie eine Art von unerkennbarem Noumenon ein- und absetzt, wird auch mit Artikel 20 zurückgewiesen, weil sie jedwede Abhängigkeit der Religiosität von der Autorität der Kirche beseitigt2. Die Kirche wird somit (wie man es auch ausdrücklich sagte) in ihren Funktionen derart beschnitten, daß sie nur noch feststellt und bestätigt, was an Ansichten in der lernenden Kirche, die in Wirklichkeit nicht mehr lernt, vorherrscht. Satz 7 bestreitet, daß die geoffenbarte Wahrheit zur inneren Zustimmung verpflichtet, wobei es im Grunde um die Zustimmung der einzelnen Person und nicht nur des Kirchenglieds geht. Gerade hierin kommt zum Ausdruck, daß im einzelnen ein innerer Kern der Unabhängigkeit von der Wahrheit stecke und daß diese als subjektiv Erfahrenes und nicht als Wahrheit bindend sei. (Fs)


Fußnote (2; 17); 17 Als Quintessenz des Modernismus ist in der Tat die Meinung anzusehen, die gläubige Seele beziehe Glaubensgegenstand und -motiv aus keiner anderen Quelle als aus sich selbst heraus. Diese Diagnose stellte Kardinal D. Mercier in seinem Hirtenbrief zur Fastenzeit des Jahres 1908.


41a Ebenso schwerwiegend ist Satz 58: »Die Wahrheit ist nicht unwandelbarer, als es der Mensch ist, denn sie entwickelt sich mit dem Menschen, im Menschen und durch den Menschen«3. Darin liegt das Bekenntnis zweier Unabhängigkeiten. Die erste ist die Unabhängigkeit des geschichtlichen Menschen vom Wesen des Menschen, das in der Geschichtlichkeit des ersteren völlig aufgeht. Der Satz bedeutet im Grunde so viel, wie das Vorhandensein der ewigen Idee leugnen, in der die realen Wesen ihr Urbild finden, Leugnung also des unumstößlichen Grundbegriffs aus dem Platonismus, ohne den der Gottesgedanke hinfällig würde. Die zweite bekannte Unabhängigkeit ist, weiter gefaßt, die der Vernunft von der VERNUNFT. Die menschliche Vernunft, das größte uns in der Welt bekannte Erfassende4, ist ihrerseits eingefaßt in einem anderen Erfassenden, der göttlichen Vernunft. Dieses andere Erfassende wird im Satz 58 geleugnet. Die Aussage des geächteten Artikels, die Wahrheit entwickle sich mit dem Menschen, im Menschen und durch den Menschen, ist also falsch. Zwar gibt es eine Entwicklung dieser Art, aber nicht für die Wahrheit als Ganzes. Es ist unzutreffend, daß die Wahrheit im werdenden Menschen im Werden begriffen sei: Im Werden sind die geschaffenen Intellekte, auch die der Gläubigen und des gesellschaftlichen Leibes der Kirche, die mit ihren eigenen, je nach Einzelperson, Generation und Zivilisation unterschiedlichen Handlungen jedoch in ein und dieselbe Wahrheit einmündet. Die Unabhängigkeit der Vernunft von der unveränderlichen Wahrheit führt dazu, dem Inhalt und dem Umfassenden der Religion den Charakter des Mobilismus (s. §§ 157-162) zu verleihen. (Fs)

42a Hochinteressant und viel Nachdenken erfordernd ist, so meine ich, Satz 65, wenn man ihn mit dem vorletzten Satz des ersten Syllabus vergleicht. Pius IX. erklärte den Katholizismus für unvereinbar mit der modernen Kultur. Von Pius X. wird verurteilt, wer den Katholizismus für unvereinbar mit der modernen Wissenschaft erklärt. (Fs)

42b Das besagt, Kirche und moderne Kultur sind zwar unverträglich miteinander, doch sind moderne Kultur und Wissenschaft nicht deckungsgleich. Vereinbar ist die Religion mit dem menschlichen Denken nicht in dem Sinne, als billige sie alle geschichtlichen Festlegungen des Denkens auf seinem - manchmal in die Irre führenden - Weg, sondern in dem Sinne, daß sie stets mit dem Wahren, das mit diesen Festlegungen angestrebt wird, in Einklang steht. Das Dokument bringt diesen Unterschied zum Ausdruck, indem es auf die Vereinbarkeit der Religion mit dem wahren Wissen verweist. Jedenfalls haben wir es mit zwei verurteilten Sätzen zu tun: Der Katholizismus ist vereinbar mit der modernen Kultur (Pius IX.) und Der Katholizismus ist unvereinbar mit der wahren Wissenschaft (Pius X.). Aus dem Vergleich beider ergibt sich, daß kein Gleichheitszeichen zwischen moderner Kultur und wahrer Wissenschaft gesetzt ist. Die Kirche trennt moderne Kultur und wahre Wissenschaft voneinander, gibt jedoch die Verurteilung des Zeitgeistes nicht auf. Es kann wahres Wissen in einer von der Wahrheit abgekehrten Kultur dasein, doch umhüllt vom Geist der Unwahrheit, und es gilt, eine Art Rückgewinnungsaktion einzuleiten, um dieses Wissen des Ungeistes zu entledigen und es wieder anzukleiden mit der im katholischen System vorhandenen Wahrheit, deren Prinzip es unterstellt wird. (Fs) (notabene)

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