Autor: Lonergan, Bernard J.F. Buch: Die Einsicht Titel: Die Einsicht Bd. I und II Stichwort: Notion des Seins; eine all-durchdringende Notion
Kurzinhalt: Die Erfahrung ist dazu da, die Untersuchung des Seins zu ermöglichen. Die Intelligenz ist dazu da, das Denken des Seins zu ermöglichen. Durch das Urteil wird aber das Sein erkannt, ...
Textausschnitt: 4. Eine all-durchdringende Notion
414a Deshalb durchdringt die Notion des Seins alles. Sie untermauert alle Erkenntnisgehalte. Sie geht in sie alle ein. Sie konstituiert sie als erkenntnismäßige. (Fs)
414b Sie untermauert alle Erkenntnisinhalte. Ohne das reine Erkenntnisstreben würde das sinnliche Leben in seiner Routine von Wahrnehmung und Trieb, Instinkt und Gewohnheit, Emotion und Aktion befangen bleiben. Was diesen Zirkel bricht und die intellektuelle Aktivität freisetzt, ist das Sich-Wundern, von dem Aristoteles sagte, es sei der Beginn aller Wissenschaft und Philosophie. Dieses Sich-Wundern ist intelligentes Suchen. Es wählt Daten für die Einsicht aus und unterstützt durch dieses Auswählen sogar die empirische Komponente in unserem Erkennen. Noch offensichtlicher sind alle Ideen und Begriffe Antworten auf das Streben nach Verstehen, und alle Urteile sind Antworten auf die Forderung nach dem Unbedingten. (Fs)
414c Zweitens, die Notion des Seins durchdringt alle Erkenntnisinhalte. Sie ist die höchste heuristische Notion. Vor jedem Inhalt ist sie die Notion des durch diesen Inhalt zu Erkennenden. Wie jeder Inhalt zustandekommt, geht das "Durch-diesen-Inhalt-zu-Erkennende" restlos über in das "Durch-diesen-Inhalt-Erkannte". Eine Leerstelle in der allgemeinen Vorwegnahme wird somit gefüllt, nicht nur, um dieses Element der Vorwegnahme zu beenden, sordern auch, um den Füller zu einem Teil des Vorweggenommenen zu machen. Vor allen Antworten ist also die Notion des Seins die Notion der Gesamtheit, die durch alle Antworten zu erkennen ist. Wenn aber einmal alle Antworten erreicht sind, wird die Notion des Seins zur Notion der durch alle Antworten erkannten Gesamtheit. (Fs)
414d [357] Drittens, die Notion des Seins konstituiert alle Inhalte als erkenntnismäßige. Erfahrung ist nur die erste Ebene der Erkenntnis; sie stellt die zu erkennende Materie vor. Verstehen ist nur die zweite Ebene der Erkenntnis; sie definiert das, was zu erkennen ist. Das Erkennen erfährt einen vollständigen Zuwachs nur durch das Urteil, nur wenn das bloß Erfahrene gedacht und das bloß Gedachte bejaht worden ist. Der Erkenntniszuwachs wird aber immer auf dieselbe Weise vervollständigt. Die Erfahrung ist ein kaleidoskopischer Fluß. Die Gedankenobjekte sind so verschieden wie der Erfindungsgeist der menschlichen Intelligenz. Aber der Beitrag des Urteils zu unserem Erkennen ist immer ein bloßes "Ja" oder "Nein", ein bloßes "Es ist" oder "Es ist nicht". Die Erfahrung ist dazu da, die Untersuchung des Seins zu ermöglichen. Die Intelligenz ist dazu da, das Denken des Seins zu ermöglichen. Durch das Urteil wird aber das Sein erkannt, und im Urteil wird das, was erkannt wird, als Sein erkannt. Daher ist das Erkennen Erkennen von Sein, aber das Erkannte ist nie bloßes Sein, so wie das Urteil nie ein bloßes "Ja" ist, getrennt von der Frage, auf die das "Ja" antwortet. (Fs)
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