Datenbank/Lektüre


Autor: May, Georg

Buch: Reformation und deutsche Bischöfe

Titel: Reformation und deutsche Bischöfe

Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Fehlen des Mutes zur Erkenntnis der Wirklichkeit

Kurzinhalt: Aber allzu viele Bischöfe begriffen nicht oder wollten nicht begreifen, was die Stunde geschlagen hatte. Die meisten wünschten nicht, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen; ...

Textausschnitt: 3. Das Fehlen des Mutes zur Erkenntnis der Wirklichkeit

88c Die Erkenntnis ist nicht nur eine Sache der Augen und des Verstandes, sondern auch des Charakters und des Willens. Denn es braucht Mut, um unangenehme Dinge zu sehen. Schwache Seelen erkennen Gefahren nicht, weil sie sie nicht wahrnehmen wollen. Es ist eine beliebte Weise, Drohendem dadurch scheinbar zu entgehen, daß man es nicht zur Kenntnis nimmt. Allzu gern halten sich Menschen in Illusionen auf, färben die Lage, weigern sich, Peinliches oder Gefährliches ins Auge zu fassen, trösten sich mit Lappalien über Bedrohungen hinweg. Diese Erscheinung ist verständlich. Denn sie hält eine Zeitlang Beschwerliches fern, behindert nicht den Lebensgenuß, verlängert die Spanne des angenehmen Lebens, erspart Anstrengungen und Zurüstungen. Dieser fehlende Mut zur Erkenntnis der tatsächlichen Lage kommt also aus zwei Mängeln des Charakters, aus Bequemlichkeit und aus Schwäche. Mag das Fehlen des Mutes zur Wirklichkeit bei Privatpersonen ohne schwerwiegende Auswirkungen für das Ganze sein, so ist es bei Amtsinhabern eine große Gefahr. Denn die Situation wird ja dadurch, daß man sich weigert, sie zur Kenntnis zu nehmen, nicht besser, und die Bedrohungen schwinden nicht deswegen, weil man sie nicht sehen will. Im Gegenteil! Die Gefährdung nimmt zu. Denn in der Spanne, in der die Verantwortlichen es versäumen, Gegenmaßnahmen einzuleiten, verstärkt sich der Gegner, wird das eigene Lager in einer falschen Ruhe gehalten und geht unwiederbringliche Zeit verloren. (Fs)

89a Dieselben Beobachtungen lassen sich beim deutschen Episkopat des 16. Jahrhunderts machen. Es gab doch damals Männer, vor allem einzelne Theologen, die den ganzen Umfang der Gefahr früh erkannten. Daraus ist zu sehen, daß es möglich war, die lutherische Bewegung von Anfang an richtig einzuschätzen. Aber allzu viele Bischöfe begriffen nicht oder wollten nicht begreifen, was die Stunde geschlagen hatte. Die meisten wünschten nicht, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen; sie hörten lieber ermutigende Nachrichten als zutreffende Schilderungen der tatsächlichen, immer schlimmer werdenden Verhältnisse. Sie klammerten sich an Strohhalme, d. h. winzige Erfolge oder Hoffnungsschimmer. Sie nahmen die Wirklichkeit des Protestantismus nicht in den Blick, täuschten sich vielmehr über seine wahre Natur und weigerten sich, zuzugeben, daß der Spalt zwischen katholischer Kirche und der Irrlehre unüberbrückbar war. Starke Persönlichkeiten schauten dagegen der Wirklichkeit ins Gesicht. Der Kardinal von Lothringen beispielsweise schrieb am 4./6. Juni 1525 richtig an Clemens VII.: "Fast ganz Deutschland steht in Flammen" (Ardet tota fere Germania factione Lutheridarum). Der Nuntius Girolamo Aleander sprach am 9. September 1538 von einem fast völligen Zusammenbruch der katholischen Religion in Deutschland (religionis om-nis immensum chaos). Der Nuntius Morone stellte am 23. Oktober 1539 fest, die katholische Religion in Deutschland gehe zugrunde (le cose della religione vanno a total roina). (Fs)

89b Wir kennen diese Erscheinung aus der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Jahrelang sprach man von einem Aufbruch und weigerte sich, zuzugeben, daß ein gigantischer Zusammenbruch vor sich ging. Als dann die ungeheuren Schäden, welche die sogenannten Reformen heraufgeführt hatten, unübersehbar wurden, sprach man von "Mißständen", statt die nachkonziliare Katastrophe beim Namen zu nennen. Die Blindheit der Hirten zeigt sich besonders gegenüber dem Protestantismus. Dieser sucht in der Gegenwart genau so berechnend seinen Vorteil wie im 16. Jahrhundert. Der Protestantismus trägt so ungeniert und rücksichtslos, wie er immer war, seine Forderungen gegenüber der Kirche vor, aber die Hirten der Kirche weisen sie nicht ab und erheben keine Gegenforderungen, erbringen vielmehr immer neue Leistungen zum Schaden der heiligen Kirche. Der Protestantismus ist dagegen nicht zum geringsten Entgegenkommen gegenüber der katholischen Lehre bereit. Alle Erfahrungen mit 450 Jahren Protestantismus scheinen vergessen. Mahnungen und Warnungen werden unwirsch abgewehrt. Eine nur ideologisch und massenpsychologisch zu erklärende Euphorie feiert den Abfall von der Kirche und seine Urheber. (Fs)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt