Autor: May, Georg Buch: Reformation und deutsche Bischöfe Titel: Reformation und deutsche Bischöfe Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - die neue Lehre von der geschlechtlichen Sittlichkeit
Kurzinhalt: Luthers Agitation gegen den Zölibat und die Ordensgelübde rief eine regelrechte "Heiratsbewegung" (August Franzen) hervor.
Textausschnitt: 4. Die neue Lehre von der geschlechtlichen Sittlichkeit
50b Einen großen Erfolg hatte Luther auch mit seiner Lehre von der Ehe und von der geschlechtlichen Sittlichkeit. Denn auf diesen Gebieten bot er den Menschen vielfältige Erleichterungen an und befreite sie von lästig empfundenen Schranken. Besonders beeindruckt zeigten sich die Menschen einmal von Luthers Predigt über das Recht jedes Menschen, seinen Geschlechtstrieb befriedigen zu können. Die zahllosen Menschen, die aus irgendwelchen Gründen außerstande waren, zu heiraten und eine Familie zu gründen, hörten jetzt von den sogenannten Reformatoren, daß die von der Kirche geforderte Enthaltsamkeit eine gottwidrige, unmögliche Zumutung sei und daß sie dem Naturtrieb nicht widerstehen könnten und sollten; die Jungfräulichkeit wurde verspottet, die Ehe überhöht. Die zahlreichen Insassen von Klöstern vernahmen von den Predigern des neuen "Evangeliums", daß es um die gottgeweihte Jungfräulichkeit, um den klösterlichen Stand und um die Gelübde nichts sei, daß vielmehr all dies verwerflicher Zwang, unnatürliche Folter und gottwidriger Mißbrauch sei. Auf einmal bot sich eine Möglichkeit, auf ehrenhafte Weise einer Lebensform zu entfliehen, die nicht leicht war und von vielen zweifellos als hart und drückend empfunden wurde. Ja, angesichts der demagogischen Hetze gegen das Ordenswesen und des von den Prädikanten gegen die Ordensleute entfachten Hasses mußte die Flucht aus dem Kloster als Befreiung erscheinen. Wurde die Priesterehe freigegeben, dann konnten Geistliche, die unenthaltsam lebten, nicht mehr bestraft werden, ihre finanzielle Lage besserte sich und die Stellung ihrer Kinder gewann Legalität. Der Erfolg solcher "Freiheit" stellte sich augenblicklich ein. Luthers Agitation gegen den Zölibat und die Ordensgelübde rief eine regelrechte "Heiratsbewegung" (August Franzen) hervor. Schon unter normalen Umständen entscheidet sich der durchschnittliche Mensch, vor die Wahl zwischen Ehe und gottgeweihter Ehelosigkeit gestellt, für den ersten Stand. Erst recht muß dies gelten für eine Zeit, in der die letztere maßlos verunglimpft und als unmöglich hingestellt wurde. (Fs)
51a Die Ehe wurde sodann als ein "weltlich Ding" jedenfalls grundsätzlich der Jurisdiktion der Kirche entzogen. Damit wurde die Strenge der Ordnung wesentlich abgeschwächt. Diese Überwindung der "Gesetzlichkeit" mußte allen eingehen, die in ihrer Ehe litten oder die vor dem Risiko der unauflöslichen Ehe zurückschreckten. Der weltlichen Obrigkeit wurde ein beträchtlicher Zuwachs an Macht verschafft. Das Gericht über die Ehe wurde von dem bischöflichen Offizial auf den Rat übertragen. Damit war regelmäßig eine erhebliche Erleichterung und Nachsicht verbunden. (Fs)
51b Die Eingehung der Ehe wurde weiter nicht nur den durch Gesetz oder Gelübde daran Gehinderten eröffnet, sondern allgemein erleichtert. Eine Reihe von Ehehindernissen entfiel, andere wurden in ihrer Reichweite beschränkt, so zum Beispiel das Ehehindernis der Blutsverwandtschaft. (Fs)
51c Einen Riesenerfolg hatte Luther schließlich mit der Preisgabe der Unauflöslichkeit der Ehe. Er führte mindestens bösliches Verlassen und Impotenz als Scheidungsgründe ein. Seine Anhänger fügten diesen weitere hinzu; mit rasender Geschwindigkeit langte man bei den Scheidungsgründen des heidnischen römischen Rechtes an. Mit der Auslieferung der Ehe an die weltliche Obrigkeit ging auch die Vollmacht zur Trennung an diese über, und so war ihr die grundsätzliche Möglichkeit zur Scheidung auch aus anderen Gründen, ja zur Auflösung jeder Ehe übertragen. Zahlreiche Männer verließen jetzt ihre Frauen. In den meisten Fällen wurde den Geschiedenen die Eingehung einer neuen Verbindung gestattet. Diese Freiheit allein mußte Luther zahlreiche Anhänger zuführen. Die Aufhebung der Unauflöslichkeit der Ehe durch die sogenannten Reformatoren kann in ihrer Bedeutung für die Zuwendung zu der neuen Lehre gar nicht überschätzt werden. Niemand hat die Erfolge Luthers deutlicher auf dessen bequeme Lehren zurückgeführt als Thomas Müntzer. Luther selbst hat mehr als einmal beklagt, daß das "Evangelium" weithin als "Bauchpredigt" verstanden werde. Canisius sah die drei C als die Hauptursache des Erfolges der Protestanten an, nämlich calix (Laienkelch), caro (Fleisch) und coniux (Aufhebung der Ehelosigkeit für Geistliche und Ordensleute). Es gehörten ein starker Glaube und gute religiöse Kenntnisse dazu, um angesichts derartiger Verlockungen, wie die Wittenberger Lehre sie bot, in der Kirche zu bleiben. (Fs)
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