Autor: May, Georg Buch: Reformation und deutsche Bischöfe Titel: Reformation und deutsche Bischöfe Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Verführung durch das Schriftprinzip
Kurzinhalt: Das Prinzip "Durch die Schrift allein" war wirksam für die protestantische Agitation, aber es war falsch. Dieser angeblich die Schrift in ihr Recht einsetzende Grundsatz hatte in der Schrift selbst keine Grundlage.
Textausschnitt: III Die theologischen Argumente
36b Die lutherische Bewegung bediente sich auch theologischer Argumente, um die Menschen an der katholischen Kirche irre zu machen und für ihre Lehre zu gewinnen. Die auf diesem Gebiet ausgegebenen Parolen waren ebenfalls höchst werbewirksam. Es kann an dieser Stelle selbstverständlich auch nicht annähernd eine ausführliche Darstellung der protestantischen Theologie geboten werden; vielmehr soll lediglich auf einige Punkte hingewiesen werden, die, unter die Massen geworfen, ein lebhaftes Echo wecken mußten. (Fs)
1. Die Verführung durch das Schriftprinzip
36c Die propagandistische und agitatorische Begabung Luthers zeigte sich vor allem in dem ununterbrochenen Bestreben, seine Sache mit dem Evangelium, der Heiligen Schrift, der Wahrheit zu identifizieren. Wenige Gegenstände seiner Lehre haben ihm unter den Geistlichen und den gebildeten Laien so viele Anhänger zugeführt wie die doppelte Behauptung, es dürfe in der christlichen Lehre nichts geglaubt werden, was nicht klar in der Heiligen Schrift enthalten sei, und eben diesen Grundsatz stelle er wieder her. Das Prinzip "Durch die Schrift allein" war der geniale Kunstgriff, mit dem die sogenannten Reformatoren es verstanden, ihre Lehren als das "Evangelium" auszugeben. Das von Luther aufgestellte Schriftprinzip übte auf die Menschen stärkste Wirkung aus. Denn indem er sagte: Nichts als die Schrift und alles aus der Schrift, schien er Gottes Autorität selbst hinter sich zu haben. Mit dem "Es steht geschrieben" stand er, so hatte es den Anschein, auf unerschütterlichem Grunde und setzte seine Gegner ins Unrecht, weil sie nicht in der Lage waren, für jede ihrer Lehren den Schriftbeweis, wie er ihn verstand, zu führen. Durch ihre scheinbar in der Bibel begründeten Attacken verschafften die Prädikanten ihren Anhängern Selbstbewußtsein und ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber den angeblich im Heidentum steckengebliebenen und vom "Evangelium" abgefallenen Katholiken. Dünkel und Überheblichkeit trugen nicht wenig dazu bei, die Katholiken verächtlich zu machen und zu entmutigen. Das Sola-scriptura-Prinzip entfaltete seine verführerische Macht. Es erweckte in Geistern, die nicht nachdachten, die Vorstelllung, die religiösen Einrichtungen des Protestantismus seien durch die Autorität Christi gedeckt, jene der katholischen Kirche jedoch nicht. Der Gotthold Ephraim Lessing, der diesen Irrtum zerstörte, war im 16. Jahrhundert nicht zur Stelle. Durch das protestantische Schriftprinzip einmal auf einen falschen Weg gelockt, war es den Lutheranern leicht, ihre Aufstellungen den theologisch Ungebildeten plausibel zu machen. Man redete, gestützt auf das Bibelprinzip, den Leuten so lange vor, daß in der katholischen Kirche Aberglaube und Götzendienst herrschten, bis sie davon überzeugt waren. (Fs)
37a Das Prinzip "Durch die Schrift allein" war wirksam für die protestantische Agitation, aber es war falsch. Dieser angeblich die Schrift in ihr Recht einsetzende Grundsatz hatte in der Schrift selbst keine Grundlage. Die Bibel sagt nirgendwo, daß in ihr alle religiöse Wahrheit ausdrücklich und entfaltet zu finden sei; sie lehrt vielmehr das Gegenteil. (Fs)
37b Das Schriftprinzip ist auch logisch unhaltbar. Denn die Schrift selbst ist keine lebendige Entscheidungsinstanz. Eine solche aber ist nötig, wenn Kontroversen um den rechten Sinn der Schrift entstehen. Wenn von protestantischer Seite gefordert wurde, ihre Position müsse aus der Schrift widerlegt werden, so war damit nichts gewonnen. Denn die entscheidende Frage blieb, wer denn verbindlich feststelle, ob die Widerlegung aus der Schrift gelungen sei oder nicht. Luther erklärte sich zwar bereit zu allen Dingen, falls er nur aus der Schrift überführt würde. Das Urteil darüber aber, ob er die Schrift wider sich habe, behielt er sich selbst vor. (Fs)
37c Das Schriftprinzip bedeutet, daß der Glaube nach der Meinung des einzelnen zu verstehen ist. Wer das "Sola scriptura" zum Prinzip erhebt, dem ist jeder Weg verbaut, irgendeine Lehre dogmatisch zu fixieren; er muß vielmehr, wenn er konsequent ist, jede Position ständig erneuter Überprüfung unterwerfen. Die Lutheraner mußten ja selbst die Erfahrung machen, daß Prediger mit einem vom Luthertum abweichenden "Evangelium" unter ihren Anhängern großen Zulauf fanden; es sei nur an einen Mann wie Kaspar Schwenkfeld erinnert. Auch die Wiedertäufer waren zumindest ursprünglich und weithin für immer Bibelchristen und huldigten dem Biblizismus. Sie hielten wie Luther den Text der Schrift für "heiter und klar", allerdings nur für jene, die den Geist Gottes hatten. Die Wiedertäufer waren felsenfest davon überzeugt, die rechte Erkenntnis der Schrift zu besitzen; sie meinten, durch göttliche Erleuchtung dazu gelangt zu sein. In Wirklichkeit führte Luther das Schriftprinzip selbst nicht konsequent durch. Er hielt Positionen fest, die durch die Bibel nicht gedeckt sind, und er gestand anderen nicht dieselbe Freiheit zu, die er für sich in Anspruch nahm, nämlich durch eigene Auslegung der Schrift zur Wahrheit zu gelangen. Luther und seine Anhänger vermochten die "Wahrheit" ihres Bekenntnisses nur dadurch zu sichern, daß sie mögliche andere Interpretationen zurückwiesen und verboten. Joseph Lortz stellt fest, "daß Luthers persönliches, an der Bibel erarbeitetes Urteil sich zum Maßstab für Verkündigung und Lehre machte". (Fs)
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