Autor: May, Georg Buch: Reformation und deutsche Bischöfe Titel: Reformation und deutsche Bischöfe Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - humanistische Kritik
Kurzinhalt: Zu Beginn der reformatorischen Bewegung erwies sich der Humanismus als ihr wichtiger Wegbereiter und Verbündeter. Der Humanismus war eine breite Strömung, welche die Gebildeten in ihren Bann schlug, ja eine Großmacht, die einen ungeheuren Einfluß ausübte. Textausschnitt: 2. Die humanistische Kritik
32d Zu Beginn der reformatorischen Bewegung erwies sich der Humanismus als ihr wichtiger Wegbereiter und Verbündeter. Der Humanismus war eine breite Strömung, welche die Gebildeten in ihren Bann schlug, ja eine Großmacht, die einen ungeheuren Einfluß ausübte. Die humanistische Kritik an Einrichtungen und Lehren der Kirche sowie am Klerus und an den Ordensleuten schuf ein Klima der Gereiztheit, der Feindseligkeit und der Ablehnung, das sich Luther und seine Anhänger zunutze machten. Die Humanisten pflegten und verbreiteten ein idealisiertes Bild der Alten Kirche und stellten ihm die angebliche oder wirkliche Verlotterung in der Gegenwart gegenüber; "Zurück zur Urzeit" war ihr Schlachtruf. Die scholastische Theologie wurde erbarmungslos verurteilt und ihre Ersetzung durch eine auf die Schrift und die Väter gegründete Theologie gefordert. Die Humanisten attackierten Tradition und Autorität. Manche bezeichneten kirchliche Zeremonien als abergläubisch. Sie wetterten über Gebote und Satzungen von Menschen und nannten ihre Häufung Gewissenstyrannei. Sie brandmarkten die kirchliche Strafpraxis. Das Äußere und Sichtbare der Kirche wurde abgewertet, das Innere und Unsichtbare überbewertet. Das Objektive trat hinter dem Subjektiven zurück. Sie bezichtigten die Kirche und ihre Diener der Geldgier und der Habsucht. Leute wie Erasmus und Ulrich von Hütten verbreiteten Abneigung und Verachtung gegen die Mönche. Der Spott, mit dem die Humanisten den Klerus und den Ordensstand überhäuften, war besonders populär. Denn der durchschnittliche Mensch fühlt sich durch deren Lebensweise, Ideale und Lehren beunruhigt; sie stören seine innerweltliche Behaglichkeit. Erfährt er jetzt, daß es mit all dem nichts auf sich hat, weil angeblich alle oder die meisten, die dieser Lebensform angehören, verlogen und korrupt sind, dann fühlt er sich gleichzeitig entlastet und gehoben. Er wird frei von dem (lästigen) Anruf des Ideals; es gibt angeblich niemanden, der sittlich über ihm steht. Zwischen dem Programm der Humanisten hinsichtlich einer "Reform" der Kirche und den Bestrebungen Luthers bestand zumindest anfangs eine weitgehende Übereinstimmung. Diese Tatsache verschaffte zahllosen gebildeten und ungebildeten Anhängern der Neuerung das erhebende Gefühl, daß der Geist und die Wissenschaft auf ihrer Seite stünden. Wenn es in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts so etwas gab wie den Zeitgeist, dann war er maßgebend durch die humanistische Kritik an der Kirche bestimmt. Luther hatte den Zeitgeist für sich und gestaltete ihn nach seinen Vorstellungen. Die Wirkungen der humanistischen Kritik an der Kirche waren schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts zu spüren. Lange vor Ausbruch der religiösen Neuerung hören wir, daß an nicht ganz wenigen Orten viele Personen an den Sonn- und Feiertagen die Messe und die Predigt nicht besuchten. Allerdings wurden diese Versäumnisse nach und infolge der protestantischen Agitation unvergleichlich viel schlimmer. Die allgemeine Nachlässigkeit im Besuch des Gottesdienstes setzte erst nach 1517 ein. (Fs)
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