Autor: May, Georg Buch: Reformation und deutsche Bischöfe Titel: Reformation und deutsche Bischöfe Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - Schwächen im Klerus
Kurzinhalt: Von Anhängern wie Gegnern der religiösen Neuerung des 16. Jahrhunderts wird mit seltener Einmütigkeit die Lage im Klerus als ein, wenn nicht als der Hauptgrund für den großen Abfall angegeben.
Textausschnitt: 2. Die Schwächen im Klerus
18a Von Anhängern wie Gegnern der religiösen Neuerung des 16. Jahrhunderts wird mit seltener Einmütigkeit die Lage im Klerus als ein, wenn nicht als der Hauptgrund für den großen Abfall angegeben. In seiner Schrift "Über die eigentliche Ursache der Häresien und Schismen und ihres Wachstums" sah beispielsweise Nausea den primären Grund der Glaubensspaltung in der sittlichen Verderbnis des Klerus, während er die dogmatischen Irrtümer als sekundär betrachtete. Daß ein beträchtlicher Teil des Klerus und der Ordensleute zu Beginn des 16. Jahrhunderts nicht auf der Höhe des Ideals stand, ist unbestritten. Allerdings ist dies zu keinem Zeitpunkt der Kirchengeschichte der Fall gewesen. Gewiß bestehen in den einzelnen Epochen Unterschiede des Niveaus, aber sie sind lediglich graduell. Die Geistlichen und die Klosterinsassen bleiben allezeit hinter den Anforderungen zurück, die Christus an sie stellt. Wollte man diese Tatsache zum Anlaß nehmen, den Glauben zu ändern, so wäre die katholische Lehre längst vergessen. (Fs)
18b Was zunächst die religiösen Kenntnisse angeht, so ist sicher, daß ein beträchtlicher Teil der Geistlichen eine durchaus zureichende theologische Bildung besaß. Durch das Studium an Universitäten und Ordensanstalten sowie durch eigene Bemühung hatten sich viele Diözesanpriester und noch mehr Ordensangehörige ein solides Wissen in Dogmatik, Heiliger Schrift und Kanonistik erworben. Nicht jeder, der etwas von Theologie verstand, war jedoch in der gesunden Lehre zuhause. In der mittelalterlichen Theologie gab es eine erhebliche Spannungsbreite. Die verschiedenen Schulen differierten teilweise nicht nur im theologischen Ansatz; es gab auch irrige Meinungen. Unter den Geistlichen waren daher bis zu einem gewissen Grad falsche Auffassungen verbreitet. Die Verurteilung Luthers durch den Papst blieb u. a. deswegen wirkungslos, weil weithin konziliaristische Vorstellungen von der Überlegenheit des Konzils über den Papst die Geister verwirrten. (Fs)
19a Ebenso aber steht der Mangel hinreichender theologischer Bildung bei vielen Priestern und erst recht bei anderen Klerikern fest. Dem Unterricht und der Ausbildung der Weltgeistlichen und der Ordensleute wurde nicht immer und überall genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Für die Unzulänglichkeit der theologischen Studien und der aszetischen Formung ist Luther selbst das beste Beispiel. Nur läßt sich dieser Mangel schlecht als Argument zugunsten der sogenannten Reformation verwenden. Denn deren "Früchte" auf dem Gebiet des Glaubens sind nur zu gut bekannt. Die meisten Lehren der sogenannten Reformatoren waren lediglich Glieder in einer langen Reihe von Häresien. Gerade wenn, wie viele protestantische Autoren nachdrücklich hervorheben, so überaus zahlreiche Geistliche theologisch ungenügend gebildet, ja unwissend waren, ist ihr massenhafter Übergang zu der lutherischen Bewegung für diese wenig schmeichelhaft. Der Orden, dessen Angehörige, insgesamt gesehen, theologisch am besten gebildet waren, der Dominikanerorden, hielt denn auch der Neuerung relativ am festesten stand. (Fs)
19b Was sodann die sittlichen und disziplinären Verhältnisse im Klerus betrifft, so ist auch hier zuzugeben, daß aus verschiedenen Gründen ein nicht zu übersehender Teil der Geistlichen aus den Banden von Sittlichkeit und Recht notorisch ausbrach. Es gab teilweise ein Mißverhältnis zwischen den Erwartungen der Gläubigen einerseits und dem Leben und der Leistung der Geistlichen anderseits, viel gerechte Empörung über ihre ungenügende Bildung, ihre Vernachlässigung der Seelsorge, ihren weltlichen Sinn, ihren Hang zum materiellen Besitz und zum Wohlleben, ihre Bevorrechtigung, ihre Übertretung klerikaler Gebote. Die traurigen Spuren des Verfalls und der Zerrüttung erfüllten ohne Zweifel urteilsfähige Männer von sittlichem Ernst mit Abscheu und Widerwillen. Für den Mangel an Ordnung im privaten und dienstlichen Leben ist Luther selbst das beste Beispiel. Die Oberen des Ordens, dem er angehörte, ließen es von Anfang an völlig an festem Durchgreifen gegen den Agitator fehlen. Der Generalvikar Staupitz unterstützte ihn vielfältig. Auf die moralische Schwäche Huldreich Zwinglis sei nur hingewiesen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die sittlichen Mängel, die im vorreformatorischen Klerus bestanden, zum erheblichen Teil ihre Wurzel in Mängeln des Glaubens hatte. Die Gläubigkeit vieler Geistlicher war nicht genügend tief, nicht hinreichend lebendig und nicht hinlänglich opferwillig. Der objektive Glaube war nicht genug persönlicher Besitz, innerstes Anliegen und tiefste Überzeugung geworden. Deswegen vermochte er auch das Leben nicht entscheidend zu prägen. Aber auch bei diesem Punkt darf man sich weder von den Übertreibungen der Protestanten noch der (um eine echte Reform besorgten) Katholiken in die Irre führen lassen. Es gab bei Beginn der Neuerung viele katholische Geistliche, die sittenrein lebten und fromm waren. Daß die würdigen Geistlichen, ihre Leistungen und ihre Verdienste verhältnismäßig selten erwähnt werden, erklärt sich aus mehreren Gründen. Einmal war der antikatholischen Polemik daran gelegen, die gesamte Kirche als verrottet darzustellen; lichte Stellen hätten das dunkle Gemälde nur gestört. Zum anderen waren aber auch die katholischen Erneuerer darauf bedacht, die Farben stark aufzutragen, um damit ihren Reformforderungen desto mehr Nachdruck zu verleihen. Auf diese Situation traf nun die protestantische Irrlehre. Der Klerus wurde durch die lutherische Agitation in seinem Glauben unsicher gemacht. Er begann an seiner Sendung zu zweifeln. Weil er nicht mehr in fragloser Gewißheit sein Priestertum ausübte, kam es zu Nachlässigkeiten und Ordnungswidrigkeiten, brach die Disziplin zusammen und suchten viele in massiven irdischen Dingen einen Ersatz für die fragwürdig gewordenen geistlichen Wirklichkeiten. Herzog Georg von Sachsen gab 1523 Luther die Schuld an dem Verfall der klösterlichen Disziplin. Die Zusammenbrüche im katholischen Klerus in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil vermitteln eine Ahnung davon, was die Erschütterung des Glaubens durch irrige Aufstellungen von Theologen und Untätigkeit von Bischöfen für Verwüstungen in den Seelen anzurichten vermag. Nachdem sie sich aber einmal von der Kirche getrennt hatten, galt: Die abgefallenen Geistlichen und Ordensleute "wurden um so heftigere Verteidiger der neuen Lehre, je stärker die Vorwürfe waren, die ihnen das Gewissen machte" (Ernst Tomek). (Fs) (notabene)
20a Die Mißstände im Klerus waren das propagandistisch wirksamste Motiv der Abspaltung. Die Sittenlosigkeit vieler Geistlicher und Mönche war der Grund, weshalb das Volk die Lehre mit den Lehrern verwarf. Die (immer ungünstiger werdenden) Zustände im Klerus gaben den Religionsneuerungen in den Augen des Volkes ihre Berechtigung. Bei einfachen Leuten gelten eben reine Gesinnung und unbescholtener Lebenswandel mehr als theologische Korrektheit. Die Masse der Menschen war (und ist) unfähig, Person und Sache zu unterscheiden. Auf die religiösen Verhältnisse angewandt, bedeutet dies: Die meisten Menschen schließen von dem beispielhaften Lebenswandel auf den Wert der ihm zugrundeliegenden Überzeugung. So nahmen sie die ungeistliche Aufführung katholischer Geistlicher zum Anlaß, über den Glauben und die Kirche den Stab zu brechen, und hielten das exemplarische Leben einzelner Anhänger der neuen Lehre für einen genügenden Grund, sich ihr anzuschließen. Es war ein hohes Maß von Glaubenstreue und Abstraktionsfähigkeit verlangt, um unter der Menge von Entartungserscheinungen und dem Andrang der Irrlehre an dem göttlichen Kern in der Kirche festzuhalten und ihn nicht mit der modernden Hülle abzustoßen. (Fs)
20b Weiter ist es nicht so, daß alle oder auch nur die überwiegende Zahl der Geistlichen ohne weiteres, d. h. aus eigenem Antrieb und ohne Druck, zum Protestantismus übergegangen wären. In allen Bistümern gab es, wenn auch in unterschiedlicher Zahl, Diözesanpriester und Ordensgeistliche, die treu am Glauben festhielten und dem Abfall mit aller Kraft entgegenwirkten. Namentlich viele von der älteren Generation blieben dem Glauben treu. Überall fanden sich katholische Priester und Mönche, die dem Einfluß der Neuerer entgegenarbeiteten. Viele wurden wegen ihres Festhaltens am Glauben vertrieben, mißhandelt und beraubt, einige sogar ermordet. Für Baden-Durlach etwa ist bezeugt, daß von ca. 65 Geistlichen, die man vor die Alternative stellte, protestantisch zu werden oder auszuwandern, 57 dem Glauben treu blieben und das Land verließen. Ebenso ist erwähnenswert, daß beispielsweise in den schwäbischen Reichsstädten, Kempten und Lindau ausgenommen, kein Pfarrer bzw. Pfarrverweser "Luthers Ruf folgte", wie Matthias Simon sich ausdrückt. Zudem gab nicht jeder Geistliche, der sich äußerlich den lutherischen Gebräuchen anpaßte, um seine Gläubigen nicht verlassen zu müssen oder um seine Stelle nicht zu verlieren, den Glauben auf. Nicht nur manche Gemeindemitglieder, sondern auch scheinbar zum Luthertum übergetretene Geistliche blieben im Herzen katholisch. Die Visitatoren der Landesherren vermochten nicht in das Innere der Pfarrer zu schauen, die sie examinierten. (Fs)
21a Es ist unzutreffend, daß die Bevölkerung überall oder auch nur in der Mehrzahl der Orte im Konflikt mit den Geistlichen und Ordensleuten gelebt hätte. Gewiß bestanden Gegensätze der Interessen, aber diese berührten in den seltensten Fällen die gesamte Einwohnerschaft einer Stadt, vielmehr regelmäßig nur bestimmte Kreise. Es gab auch viele Pfarreien, in denen die Gläubigen an ihren Seelsorgern hingen und nicht von ihnen lassen wollten, und es fehlt nicht an Beispielen eines nahen, vertrauten Verhältnisses von Klöstern der Bettelorden zu der Bürgerschaft. (Fs)
21b Vor allem aber ist darauf hinzuweisen, daß die sogenannte Reformation die Verhältnisse im Klerus nicht besserte, sondern verschlechterte. Der schlimmste Zustand des Klerus wurde in der Mitte des 16. Jahrhunderts erreicht, also nach jahrzehntelangem Wirken der sogenannten Reformatoren. Die seit langer Zeit eingewurzelte Gewohnheit des Konkubinats der Geistlichen war durch die Lehren der Reformatoren und durch die Forderung der Priesterehe durch den Kaiser auf dem Konzil von Trient verstärkt worden. Wenn ein großer Teil der katholischen Geistlichen ungebildet und unwissend war, so waren die Zustände bei den Prädikanten noch viel schlechter. Wurde bei den ersteren über Sittenlosigkeit geklagt, so waren die Verhältnisse bei letzteren nicht besser. Es ist bekannt, daß es gerade die sittliche Unfruchtbarkeit der sogenannten Reformation war, die zahllose ihrer früheren Anhänger in das Lager der Täufer trieb. Auch hier ist der Vergleich des Verhaltens von Klerus und Volk gegenüber der progressistischen Woge, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Kirche überschwemmte, aufschlußreich für die Lage im 16. Jahrhundert. (Fs)
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