Autor: May, Georg Buch: Reformation und deutsche Bischöfe Titel: Reformation und deutsche Bischöfe Stichwort: Reformation, deutsche Bischöfe - dogmatische, theologische Unsicherheit
Kurzinhalt: Wenn nun Priester und Ordensleute etwas anderes lehrten, mußte der Glaube des Volkes erschüttert werden; die einen folgten der neuen Botschaft, andere verwarfen jede Lehre, nur wenige hatten die Kraft und die Selbständigkeit ... Textausschnitt: I Die Schwächen auf katholischer Seite
15b Um den Anteil ermessen zu können, den das Tun oder das Unterlassen der deutschen Bischöfe an der Ausbreitung der protestantischen Irrlehre hatte, ist es nötig, wenigstens kurz die übrigen Ursachen für den Erfolg der lutherischen Bewegung anzugeben. Die Tatsache, daß der Protestantismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen in vielen Ländern ein starkes Echo und zahlreiche Anhänger fand, wird auf protestantischer Seite gewöhnlich auf zweifache Weise erklärt. Man verweist einmal auf die angeblich übergroßen Schäden der katholischen Kirche, die nach einem radikalen Heilmittel gerufen hätten, und zum anderen auf die vermeintliche Kraft des "Evangeliums", das Luther und die übrigen "Reformatoren" gegenüber der "Verderbnis" der katholischen Kirchenlehre freigesetzt hätten. Demgegenüber stellen sich mir die Fakten anders dar. (Fs)
1. Die dogmatische Unsicherheit und die theologische
15c In protestantischen Darstellungen der Geschichte der sogenannten Reformation werden oft drastische Beispiele der religiösen Unwissenheit unter dem Katholizismus angeführt wie mangelnde Kenntnis der Heiligen Schrift, ja der Zehn Gebote. Diese Schilderungen sind meist durchaus zutreffend. Es besteht kein Zweifel, daß die Mehrheit des Volkes und auch ein großer Teil des Adels zu Beginn des 16. Jahrhunderts religiös unwissend waren. Allerdings ist diese Unwissenheit weitester Kreise keine Besonderheit der hier in Frage stehenden Zeit. Abgesehen von Perioden relativen religiösen Hochstandes wie jener, die mit dem Tode Pius' XII. zu Ende ging, war das religiöse Wissen der Gläubigen häufig in der Geschichte unbefriedigend. Diese Beobachtung trifft zu für die Angehörigen der katholischen Kirche, aber auch und vielleicht erst recht für die Anhänger der neuen Lehre. Für die letzteren liegen in den Visitationsberichten des 16. Jahrhunderts aufschlußreiche Schilderungen vor, die den kümmerlichen Wissensstand bei den Protestanten dartun. Erst recht gilt dies für die Gegenwart. Ich frage: Wenn heute eine Visitation unter den Protestanten gehalten würde - nach über 450 Jahren protestantischer Erziehung -, wie viele müßten dann ihre Unkenntnis der Bibel und des Dekalogs eingestehen? Trotz der religiösen Unwissenheit weiter Kreise der Gläubigen bejahte das Volk im 16. Jahrhundert den katholischen Glauben und hing ihm an, zwar vielfach unreflex, aber doch auch meist unangefochten. Der katholische Glaube war mitnichten erstorben, sondern zeigte fast überall Äußerungen kräftigen Lebens. (Fs)
16a Die religiöse Unwissenheit vieler Gläubigen hatte zur Folge, daß die religiöse Neuerung sie unsicher machte. Die sogenannten Reformatoren rissen herunter, was ihnen bisher heilig war, und zerfetzten, woran sie geglaubt hatten, und das waren doch zum größten Teil Priester und Mönche, häufig solche, die ihnen noch gestern das Wort Gottes nach der Lehre der Kirche gepredigt hatten; jetzt lehrten sie anders, verwarfen als Irrtum und Mißbrauch, wozu sie soeben noch das Volk angeleitet hatten. Die Gläubigen waren dem Ansturm der neuen Lehre theologisch nicht gewachsen. Sie verfügten nicht über die Kenntnisse, um den Scheinargumenten der Neuerer begegnen zu können. So begannen sie ihren katholischen Instinkt zu verlieren. Sie ruhten nicht mehr in der Gewißheit der Wahrheit des katholischen Glaubens. Der Zweifel begann in ihnen aufzusteigen. Die religiöse Praxis ließ nach. Es mangelte an Geistlichen, die dank eines gründlichen theologischen Wissens und kraft ihres erhebenden Lebenswandels in der Lage waren, die Zweifel der Gläubigen zu zerstreuen und die Wankenden zu festigen. Das Volk hatte den Unterricht über den Glauben in der Hauptsache von den Geistlichen empfangen; es war mithin in seinem Verständnis der Heilswahrheiten weitgehendst von der Unterweisung des Klerus abhängig. Wenn nun Priester und Ordensleute etwas anderes lehrten, mußte der Glaube des Volkes erschüttert werden; die einen folgten der neuen Botschaft, andere verwarfen jede Lehre, nur wenige hatten die Kraft und die Selbständigkeit, bei dem überkommenen Glauben zu verharren. Dennoch darf der Erfolg der protestantischen Zerstörungsarbeit nicht übertrieben werden. Entgegen einem verbreiteten Vorurteil hielt gerade ein beträchtlicher Teil der Gebildeten an dem katholischen Glauben fest. Die treuen Katholiken wehrten sich auch gegen die Aufzwingung der Irrlehre. An so manchen Orten, wie beispielsweise in Ansbach, gab es sogar beträchtlichen Widerstand von katholischer Seite. Auch in den Reichsstädten fanden sich überzeugte Katholiken und zeigte sich mancher mutige Protest gegen die Pro-testantisierung. (Fs)
16b Eine weitere Folge der religiösen Unwissenheit war das Unvermögen, über die durch die Glaubensneuerung entzündeten Streitfragen eine begründete eigene Stellungnahme abzugeben. "Die übergroße Masse der religiös Unwissenden und Unerfahrenen konnte sich ja kein selbständiges Urteil bilden" (Ernst Tomek). Die Unwissenheit und die Urteilsunfähigkeit in theologischen Dingen waren bei den Bauern ebenso verbreitet wie bei den Adligen. Aleander schrieb im Dezember 1520 aus Worms, die Massen ließen sich von Schlagworten und Leidenschaften bestimmen, ohne viel von den Grundlagen der lutherischen Lehre zu verstehen. Der Nuntius Pighino sah am 5. November 1548 die breite Masse des Volkes aus Unwissenheit und mangelndem Unterscheidungsvermögen zum Protestantismus verführt; die Prädikanten würden ihren Sinnen schmeicheln, die Fürsten gäben ihnen ein schlechtes Beispiel, das traurige Verhalten des katholischen Klerus bestärke sie in ihrem Irrtum. (Fs)
17a Freilich gab es einzelne Laien, die von Anfang an oder jedenfalls sehr früh klar die irrigen Lehren der sogenannten Reformatoren durchschauten. Der Herzog Georg von Sachsen z. B. wußte nach einer einzigen Predigt, die er gehört hatte, wessen Geistes Kind Luther war. Aber diese Erkenntnis war nicht Allgemeingut der Fürsten und schon gar nicht des Volkes, und es geschah zu wenig, sie zu verbreiten, den Nebel zu zerstören, der über den Aufstellungen der sogenannten Reformatoren hing. Die Schaffung völliger Klarheit in Glaubensdingen war die dringendste und notwendigste Aufgabe, die der Hierarchie der Kirche gestellt war. (Fs)
17b Weil die Masse der Menschen zu einem eigenen Urteil über die Glaubensfragen nicht imstande war, ist nicht anzunehmen, daß sie, von der nunmehr aufgegangenen "Wahrheit" gleichsam bezwungen, aufgrund eines Gewissensentscheides die Wittenberger Lehre angenommen und eine Überzeugung begründet hätte. Diese Meinung scheitert schon an der einfachen Überlegung, daß dem durchschnittlichen Menschen kaum an etwas weniger gelegen ist als an der Wahrheit. Es kann keine Rede davon sein, daß die Mehrheit des Volkes nun auf einmal die Wahrheit erkannt zu haben glaubte und sie über alles setzte, daß sie, von Gott gedrungen und Gott allein gehorchend, dem Gewissen folgte und aus lauter Gewissenhaftigkeit von sich warf, woran sie bisher gehangen hatte. Es wäre ein völliges Mißverständnis, zu meinen, die Masse der Menschen habe die neue Lehre, von Einsicht bezwungen und vom Gewissen genötigt, mit Überzeugung angenommen. Die meisten Zeitgenossen folgten vielmehr den Stimmführern, die populäre Parolen unter das Volk warfen und dadurch eine breite Strömung hervorriefen. Es ist generell zu fragen, wie viele Menschen die Eingliederung in eine Massenbewegung mit einer Gewissensentscheidung verwechseln. (Fs) (notabene)
17c Die protestantische Geschichtsschreibung der sogenannten Reformation hat es schwer. Sie muß nämlich versuchen, den Abfall so vieler von der Kirche und vom Glauben als Wandel der Überzeugung zu erklären. Dabei erhebt sich die schwerwiegende Frage, wie es um die neue Überzeugung der Männer und Frauen bestellt war, die anscheinend so rasch und leicht ihre alte Überzeugung fahren ließen. In Wirklichkeit dürfte bei vielen die katholische "Überzeugung" nicht allzu tief gegangen sein, aber auch und erst recht nicht die protestantische "Überzeugung". Aus den religiösen Kämpfen und Streitigkeiten zur Zeit der Französischen Revolution ist bekannt, daß nur eine kleine Minderheit der Menschen tiefgegründete und abgeschlossene Überzeugungen besitzt. Die große Menge will religiös sein, aber es liegt ihr wenig an den theologischen Unterschieden. Sie wünscht den Geistlichen, jedoch kommt es ihr nicht entscheidend darauf an, ob er von dieser oder einer anderen religiösen Richtung ist. Das Volk in seiner Gesamtheit verstand nichts von den subtilen Fragen, die der Eid auf die Zivilkonstitution des Klerus aufwarf. Ob sich eine Gemeinde für oder gegen den konstitutionellen Kult aussprach, dafür war der persönliche Einfluß des Priesters ausschlaggebend. Ähnlich war es in der Zeit der sogenannten Reformation. Die meisten Menschen waren zu einem eigenen Urteil nicht imstande. Nicht wenige dürften jeder festen katholischen Überzeugung entbehrt haben. Was sie an religiösem Wissen besaßen und an religiöser Praxis übten, hatten sie nicht wirklich sich geistig angeeignet, sondern es war ihnen überkommen und wurde mechanisch betrieben. Bei ihnen brauchte es keinen heftigen Anstoß, daß sie an der ererbten Religion irre wurden und sich den neuen Ideen zuwandten. Dazu steht nicht im Widerspruch, daß ein beträchtlicher Teil der Menschen dem neuen "Evangelium" freudig, ja begeistert zufiel. Der durchschnittliche Mensch nimmt bekanntlich alles jubelnd auf, was Erleichterung und Entlastung verspricht, was modern und neu ist oder sich so gibt. Luther selbst war von der tiefen Verwurzelung des neuen "Evangeliums" in den Menschen nicht überzeugt. Denn sonst hätte er nicht 1532 erklären können, es stehe in seiner Macht, mit zwei oder drei Predigten alle wieder in das Papsttum zurückzuführen. (Fs)
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