Autor: Gehlen, Arnold Buch: Die Seele im technischen Zeitalter Titel: Die Seele im technischen Zeitalter Stichwort: Verbreitung technischer Denkmodelle; Prinzip: Konzentration auf den Effekt; Stil; Picasso
Kurzinhalt: Das System der apriorischen Vorstellungen einer Kultur ist, wenn man das Gemeinte in philosophischer Terminologie ausdrücken will, erst in zweiter Linie an den Inhalten ablesbar, in erster Linie liegt es in den Formen, wie die Wirklichkeit aufgefaßt ...
Textausschnitt: 4. Verbreitung technischer Denkmodelle
38a In den beiden ersten Kapiteln haben wir den Umkreis abgesteckt, innerhalb dessen sich die folgenden Untersuchungen halten wollen. Wir haben aber auch zugleich reale und wirksame Faktoren beschrieben, die das Innenleben der Menschen unserer Zeit beeinflussen und die an der Prägung ihrer Wertungen, Interessen und Denkbarkeiten beteiligt sind. Zu diesen Faktoren gehört der Dualismus von Entsinnlichung, Verbegrifflichung auf der einen Seite und Primitivisierung auf der anderen, wobei der innere, tiefe Zusammenhang dieser Seiten leichter eingesehen als beschrieben ist; gehört aber vor allem jene allmächtige Superstruktur, in der Technik, Industrie und Naturwissenschaften als gegenseitige Voraussetzungen auftreten. (Fs)
39a Nun zeigt die Kulturforschung immer und zu allen Zeiten, daß das menschliche Bewußtsein jeweils von den kulturell bevorzugten Denkarten und Verhaltensweisen durchgeformt wird, es wird von der Thematik, die den Schwerpunkt einer Epoche bestimmt, sozusagen imprägniert und hält die Gesichtspunkte seiner Kultur schließlich für die einzig natürlichen und vernünftigen, oder doch mindestens für selbstverständlich. Dies ist nun auch heute der Fall, und man kann z. B. leicht zeigen, wie an der Technik entwickelte Denkweisen sich in nichttechnische Gebiete, wo sie unangemessen sind, dennoch fortsetzen, und gerade sofern das schon selbstverständlich geworden ist und also eigens angemerkt und ins Bewußtsein gehoben werden muß, beweist sich damit eine innere Transformation der Art und Weise, wie wir Wirklichkeiten auffassen. Nach unserer Auffassung verändern sich ja in großen historischen Dimensionen die Bewußtseinsstrukturen selber, d.h. die Weisen, wie das Bewußtsein arbeitet, seine bevorzugten Handlungsarten sozusagen. Das System der apriorischen Vorstellungen einer Kultur ist, wenn man das Gemeinte in philosophischer Terminologie ausdrücken will, erst in zweiter Linie an den Inhalten ablesbar, in erster Linie liegt es in den Formen, wie die Wirklichkeit aufgefaßt und in welchen Zusammenhängen sie interpretiert wird. (Fs)
39b So kann man heute geradezu technische Prinzipien benennen, die sich auch in den sozialen und zwischenmenschlichen Beziehungen vollständig durchgesetzt haben. Das »Prinzip der vollen Beanspruchung«, der Ausschaltung des Leerlaufes, toter Gewichte und ungenutzter Energien ist zu einem Grundsatz geworden, nach dem in jedem arbeitsteiligen Betrieb Arbeitskräfte disponiert werden. Gilt jemand als »nicht ausgelastet«, so werden die Aufgaben neu verteilt. Das »Prinzip der vorbereiteten Vollzüge«, an den Schienen der Eisenbahn ablesbar, wird zum Grundsatz aller Planung, und der Mann am Druckknopf oder Schalthebel ist die Modellfigur aller gut funktionierenden Regie. Das Prinzip der »Normgrößen« und der »auswechselbaren Teile« kann man in den Stellenangeboten der Zeitungen wiederfinden, wenn die geforderten Qualitäten und Maße (einschließlich des Alters) genau definiert werden, das Prinzip der »Konzentration auf den Effekt« hingegen hat vielleicht die allerbreiteste Anwendung, von der gezielten chemischen Therapie der Ärzte bis zur wohlüberlegten Propagandaformel. Denn über die Menschen des technischen Zeitalters hat der Gedanke des optimalen Effekts eine ganz zwingende Gewalt: wird mit den sparsamsten Mitteln eine genau umschriebene, aber durchschlagende Wirkung erreicht, so ist unsere Befriedigung groß; tritt aber eine solche Wirkung, nachdem man sie »angelassen« hat, von selbst ein, so ist sie endgültig. Eine in diesem Sinne gut gemachte Propaganda z. B. soll die Menschen automatisch beeinflussen, sie unterscheidet sich also im Sinne Biddles* von anderen Formen des Zwanges dadurch, daß sie lenkt, ohne Widerstand auszulösen. (Fs)
40a Wenn man sich die Selbstverständlichkeit und Unabgrenzbarkeit der Geltung solcher ursprünglich technischer Prinzipien auf nichttechnischen Gebieten ansieht, dann wird doch das weitverbreitete Vorurteil zweifelhaft, das dieser unserer Kultur einen »Stil« abspricht; es mag übrigens zur Zeit seiner Entstehung wohl im Umkreis Nietzsches zutreffender gewesen sein als heute. Dabei müssen wir noch einmal einen Blick auf die modernen Künste werfen. Der hohen Rationalität unserer Kultur vergleichsweise unangemessene Felder sind nämlich nicht mehr die, wo es auf »Gesinnungen« ankommt, denn die »materialreine« Gesinnung gehört selbst in diese Stilwelt hinein, sondern sie liegen da, wo ein gezielter und kalkulabler Effekt zwar gewollt, aber nicht mit Sicherheit erreicht wird - eben dies gilt weithin von den modernsten Formen der Musik, Lyrik und Malerei. Der Tendenz nach erstreben sie durchaus den isolierten, reinen und durchschlagenden Effekt, aber sie erreichen ihn nicht mit gut schätzbarer Wahrscheinlichkeit, und darin liegt der innere Grund, warum sie sich zusätzlich, aber notwendig noch mit einer anderen, zuverlässiger wirkenden Erfolgsgarantie versehen müssen: mit unermüdlicher Propaganda. (Fs)
40b Die wie gesagt erstrebte Tendenz nach dem reinen, unwiderstehlichen Effekt erlaubt aber immerhin, das Arbeitsverfahren selbst zu rationalisieren, das sich auf die sparsamste Herausarbeitung etwa des Bildgedankens beschränken kann, so daß Picasso, wie Misia Sert berichtet, an einem Tage mehrere Bilder malte. Seine Arbeitsproduktivität überstieg somit ganz erheblich die eines Renoir, von dem dieselbe Autorin berichtet, daß er für jedes der sieben oder acht Bilder von ihr mindestens einen Monat lang drei Sitzungen in einer Woche brauchte, und eine Sitzung dauerte einen ganzen Tag.* (Fs)
41a Der Fall scheint uns exemplarische Bedeutung zu haben, er wird deswegen erwähnt. Die Künstler, Wissenschaftler usw. würden sich im Grunde vernünftig verhalten, sie wären den Gesetzen des Zeitalters »angepaßt«, wenn sie für ihre Produktionen selbst nicht mehr »Dauer« und »zeitüberlegene Gültigkeit« in Anspruch nehmen würden. Es entspricht nicht nur den Kategorien einer Konsumentengesellschaft, sondern auch denen einer technischen, bei der der Verschleiß zu einem Bestandteil des Fortschrittes geworden ist, wenn von vornherein auf Schnelligkeit des Umsatzes hin produziert wird - und das geschieht, wenn Bernard Büffet in zehn Jahren 2 000 Bilder malt.* Das von den Künstlern provozierte Erlebnis selbst ist ja unstabil, es ist eine Erregungsmasse, die, wie die Physiker sagen würden, nach einer bestimmten »Halbwertszeit« zerfällt, und dieser Flüchtigkeit des Effekts würde eine allzu große Sorgfalt seiner Vorbereitung nicht angemessen sein. (Fs)
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