Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Jesus von Nazareth 1 Titel: Jesus von Nazareth Stichwort: Seligpreisung 4; Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; Edith Stein (Wahrheit - Christus)
Kurzinhalt: Der Blick richtet sich auf die Menschen, die sich nicht mit dem Vorhandenen begnügen und die Unruhe des Herzens nicht ersticken, die den Menschen auf Größeres verweist, so dass er sich inwendig auf den Weg macht ...
Textausschnitt: 121b Hören wir jetzt noch die zweite, bisher nicht behandelte Seligpreisung: "Selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden" (v. 6). Dieser Lobpreis ist von innen her dem Wort über die Trauernden verwandt, die Tröstung finden werden: Wie dort diejenigen Verheißung empfangen, die sich nicht dem Diktat der herrschenden Meinungen und Gewohnheiten beugen, sondern im Leiden dagegen Widerstand leisten, so geht es auch hier um die Menschen, die Ausschau halten, die auf der Suche nach dem Großen, nach der wahren Gerechtigkeit, dem wahren Gut sind. Ein Wort, das sich in einem Strang der Texte des Daniel-Buches findet, wurde für die Überlieferung die Zusammenfassung der Haltung, um die es hier geht. Dort wird Daniel als vir desideriorum, als "Mann der Sehnsucht" (Dan 9,23 Vg) beschrieben. Der Blick richtet sich auf die Menschen, die sich nicht mit dem Vorhandenen begnügen und die Unruhe des Herzens nicht ersticken, die den Menschen auf Größeres verweist, so dass er sich inwendig auf den Weg macht - gleichsam wie die Weisen aus dem Morgenland, die Jesus suchen, den Stern, der den Weg zur Wahrheit, zur Liebe, zu Gott zeigt. Es sind Menschen einer inneren Sensibilität, die sie hör- und sehfähig macht für die leisen Zeichen, die Gott in die Welt hineinsendet und die so die Diktatur der Gewöhnlichkeit zerbrechen. (Fs)
122a Wer würde dabei nicht an die demütigen Heiligen denken, in denen der Alte Bund sich für den Neuen öffnet und in ihn hineinverwandelt? An Zacharias und Elisabeth, an Maria und Josef, an Simeon und Anna, die je auf ihre Weise mit innerer Wachheit auf das Heil Israels warten und mit ihrer demütigen Frömmigkeit, der Geduld ihres Wartens und Sehnens dem Herrn "die Wege bereiten"? Aber denken wir auch an die zwölf Apostel - an Menschen (wir werden es sehen) aus ganz verschiedenen geistigen und sozialen Herkünften, die aber mitten in ihrer Arbeit und ihrem Alltag sich das offene Herz bewahrt hatten, das sie dem Ruf des Größeren öffnete? Oder auch an die Leidenschaft eines Paulus für die Gerechtigkeit, die auf dem falschen Weg ist, aber ihn doch dafür bereitet, von Gott niedergeworfen und so zu neuer Hellsicht gebracht zu werden? So könnten wir die ganze Geschichte hindurch fortfahren. Edith Stein hat einmal gesagt, wer redlich und leidenschaftlich nach der Wahrheit suche, der sei auf dem Weg zu Christus. Von solchen Menschen spricht die Seligpreisung - von diesem Durst und Hunger, der selig ist, weil er den Menschen zu Gott, zu Christus führt und deshalb die Welt dem Reich Gottes öffnet. (Fs) (notabene)
122b Mir scheint, dass dies die Stelle ist, an der sich vom Neuen Testament her etwas über das Heil derer sagen lässt, die Christus nicht kennen. Die heutige Theorie geht dahin, dass jeder seine Religion leben solle oder vielleicht auch den Atheismus, in dem er sich vorfindet. Auf diese Weise werde er das Heil finden. Eine solche Meinung setzt ein sehr seltsames Gottesbild und eine seltsame Vorstellung vom Menschen und dem rechten Weg des Menschseins voraus. Versuchen wir, uns das durch ein paar praktische Fragen deutlich zu machen. Wird jemand deshalb selig und von Gott als recht erkannt werden, weil er den Pflichten der Blutrache gewissenhaft nachgekommen ist? Weil er sich kräftig für und im "Heiligen Krieg" engagiert hat? Oder weil er bestimmte Tieropfer dargebracht hat? Oder weil er rituelle Waschungen und sonstige Observanzen eingehalten hat? Weil er seine Meinungen und Wünsche zum Gewissensspruch erklärt und so sich selbst zum Maßstab erhoben hat? Nein, Gott verlangt das Gegenteil: das innere Wachwerden für seinen stillen Zuspruch, der in uns da ist und uns aus den bloßen Gewohnheiten herausreißt auf den Weg zur Wahrheit; Menschen, die "hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit" - das ist der Weg, der jedem offensteht; es ist der Weg, der bei Jesus Christus endet. (Fs) (notabene)
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