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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: Seligpreisung 1; Seligen die Armen im Geiste

Kurzinhalt: Hier ist im Stillen auch schon jene Haltung vor Gott gereift, die Paulus in seiner Rechtfertigungstheologie entfaltet hat: Es sind Menschen, die nicht mit ihren Leistungen vor Gott prunken.

Textausschnitt: 104b Sehen wir uns nun die einzelnen Glieder der Seligpreisungskette etwas näher an. Da ist zunächst das vielum-rätselte Wort von den "Armen im Geist". Dieses Wort erscheint in den Qumranrollen, in denen es die Selbstbezeichnung der Frommen ist. Sie nennen sich auch "die Armen der Gnade", "die Armen deiner Erlösung" oder einfach "die Armen" (Gnilka, a. a. O., S. 121). Sie drücken mit dieser Selbstbezeichnung ihr Bewusstsein aus, das wahre Israel zu sein; sie greifen damit in der Tat Traditionen auf, die tief im Glauben Israels verwurzelt sind. Zur Zeit der Eroberung Judäas durch die Babylonier mussten 90 Prozent der Judäer zu den Armen gerechnet werden; aufgrund der persischen Steuerpolitik war nach dem Exil erneut eine dramatische Armutssituation gegeben. Die alte Vision, dass es dem Gerechten gut geht und dass Armut Folge schlechten Lebens sei (Tun-Ergehens-Zusammenhang), ließ sich nun nicht mehr aufrechterhalten. Nun erkennt sich Israel gerade in seiner Armut als Gott nahe, erkennt, dass gerade die Armen in ihrer Demut Gottes Herzen nahestehen im Gegensatz zum Hochmut der Reichen, die nur auf sich selbst bauen. (Fs)

105a In vielen Psalmen drückt sich die Frömmigkeit der Armen aus, die so gewachsen ist; sie erkennen sich als das wahre Israel. In der Frömmigkeit dieser Psalmen, in der tiefen Zuwendung zur Güte Gottes, in der menschlichen Güte und Demut, die sich dabei bildete, im wartenden Ausschauen auf Gottes rettende Liebe hat sich jene Offenheit der Herzen entwickelt, die für Christus die Tür aufgetan hat. Maria und Josef, Simeon und Anna, Zacharias und Elisabeth, die Hirten von Bethlehem, die zwölf vom Herrn zur engsten Jüngerschaft Gerufenen gehören diesen Kreisen zu, die sich von den Pharisäern und Sadduzäern, aber auch trotz mancher seelischer Nähe von Qumran abheben - sie sind es, in denen das Neue Testament beginnt, das sich ganz und gar in Einheit mit dem zu immer größerer Reinheit reifenden Glauben Israels weiß. (Fs)

106a Hier ist im Stillen auch schon jene Haltung vor Gott gereift, die Paulus in seiner Rechtfertigungstheologie entfaltet hat: Es sind Menschen, die nicht mit ihren Leistungen vor Gott prunken. Sie kommen sich nicht wie eine Art gleichberechtigte Geschäftspartner vor Gott vor, die für ihre Taten Anspruch auf den entsprechenden Lohn erheben. Es sind Menschen, die sich auch inwendig arm wissen, Liebende, die sich einfach von Gott beschenken lassen wollen und gerade so in innerer Übereinstimmung mit Gottes Wesen und Wort leben. Das Wort der heiligen Therese von Lisieux, sie werde einmal mit leeren Händen vor Gott stehen und sie ihm offen hinhalten, beschreibt den Geist dieser Armen Gottes: Sie kommen mit leeren Händen, nicht mit Händen, die greifen und festhalten, sondern mit Händen, die sich öffnen und schenken und so bereit sind für Gottes schenkende Güte. (Fs)

106b Weil es so steht, gibt es auch keinen Gegensatz zwischen Matthäus, der von den Armen dem Geiste nach spricht, und Lukas, bei dem der Herr einfach die "Armen" anredet. Man hat gesagt, Matthäus habe den bei Lukas ursprünglich ganz materiell und real verstandenen Begriff von Armut vergeistigt und so seiner Radikalität beraubt. Wer das Lukas-Evangelium liest, weiß genau, dass gerade Lukas uns die "Armen im Geiste" vorstellt, die sozusagen die soziologische Gruppe waren, in der der irdische Weg Jesu und seiner Botschaft seinen Anfang nehmen konnte. Und es ist umgekehrt klar, dass Matthäus ganz in der Tradition der Psalmenfrömmigkeit und so in der Vision des wahren Israel verbleibt, die sich darin Ausdruck geschaffen hatte. (Fs)

106c Die Armut, von der da die Rede ist, ist nie ein bloß materielles Phänomen. Die bloße materielle Armut rettet nicht, auch wenn gewiss die Benachteiligten dieser Welt in ganz besonderer Weise mit Gottes Güte rechnen dürfen. Aber das Herz der Nichtsbesitzenden kann verhärtet, vergiftet, böse sein - inwendig voller Gier nach der Habe, Gottes vergessend und nach dem äußeren Besitz sich verzehrend. (Fs)

107a Andererseits ist die Armut, von der da geredet wird, nun doch auch keine bloß geistige Haltung. Gewiss, die Radikalität, die uns von so vielen wahren Christen - vom Mönchsvater Antonius bis zu Franz von Assisi und bis in die exemplarisch Armen unseres Jahrhunderts - vorgelebt wurde und wird, ist nicht allen aufgetragen. Aber die Kirche braucht, um Gemeinschaft der Armen Jesu zu sein, immer wieder die großen Verzichtenden; sie braucht die ihnen folgenden Gemeinschaften, die Armut und Einfachheit leben und uns so die Wahrheit der Seligpreisungen zeigen, um alle wachzurütteln, Besitz nur als Dienst zu verstehen, sich der Kultur des Habens in einer Kultur der inneren Freiheit entgegenzustellen und so auch die Voraussetzungen für soziale Gerechtigkeit zu schaffen. (Fs)

107b Die Bergpredigt ist als solche kein Sozialprogramm, das ist wahr. Aber nur wo die große Orientierung, die sie uns gibt, in der Gesinnung und im Tun lebendig bleibt, nur wo vom Glauben die Kraft des Verzichts und der Verantwortung für den Nächsten wie für das Ganze kommt, kann auch soziale Gerechtigkeit wachsen. Und die Kirche als Ganze muss sich bewusst bleiben, dass sie als die Gemeinschaft der Armen Gottes erkennbar bleiben muss. Wie das Alte Testament sich auf die Er-Neuerung zum Neuen Bund von den Armen Gottes her geöffnet hat, so kann auch jede Erneuerung der Kirche immer nur von denen ausgehen, in denen die gleiche entschiedene Demut und dienstbereite Güte lebt. (Fs)
108a Mit alledem haben wir bisher nur die erste Hälfte der ersten Seligpreisung "Selig die vom Geist her Armen" bedacht; bei Matthäus wie bei Lukas lautet die ihnen zugeordnete Verheißung: euer (ihrer) ist das Reich Gottes (das Reich der Himmel) (Lk 6,20; Mt 5,3). "Reich Gottes" ist die Grundkategorie der Botschaft Jesu; sie tritt hier in die Seligpreisungen herein: Zum rechten Verständnis dieses vielumstrittenen Begriffs ist dieser Zusammenhang wichtig. Wir haben dies bereits gesehen, als wir der Bedeutung des Wortes "Reich Gottes" näher nachgegangen sind, und werden uns auch bei den weiteren Überlegungen noch öfter daran zu erinnern haben. (Fs)

108b Aber vielleicht ist es gut, dass wir - bevor wir in der Meditation des Textes fortfahren - uns noch einmal für einen Augenblick der Gestalt der Glaubensgeschichte zuwenden, in der diese Seligpreisung am dichtesten in menschliche Existenz übersetzt worden ist: Franz von Assisi. Die Heiligen sind die wahren Ausleger der Heiligen Schrift. Was ein Wort bedeutet, wird am meisten in jenen Menschen verständlich, die ganz davon ergriffen wurden und es gelebt haben. Auslegung der Schrift kann keine rein akademische Angelegenheit sein und kann nicht ins rein Historische verbannt werden. Die Schrift trägt überall ein Zukunftspotential in sich, das sich erst im Durchleben und Durchleiden ihrer Worte öffnet. Franz von Assisi hat die Verheißung dieses Wortes in letzter Radikalität ergriffen. Bis dahin, dass er sogar seine Kleider weggab und sich vom Bischof als dem Vertreter der Vatergüte Gottes, die die Lilien des Feldes schöner kleidet, als Salomo es war (Mt 6,28f), neu einkleiden ließ. Diese äußerste Demut war für ihn vor allem Freiheit des Dienens, Freiheit zur Sendung, letztes Vertrauen zu Gott, der nicht nur für die Blumen des Feldes, sondern gerade für seine Menschenkinder sorgt; Korrektiv zur Kirche seiner Zeit, die mit dem feudalen System die Freiheit und die Dynamik des missionarischen Unterwegsseins verloren hatte; innerste Offenheit für Christus, mit dem er in der Verwundung durch die Wundmale ganz gleichgestaltet wurde, so dass nun wirklich nicht mehr er selber sein Selbst lebte, sondern er als der Wiedergeborene ganz von und in Christus existierte. Er wollte ja keinen Orden gründen, sondern einfach das Volk Gottes neu sammeln auf ein Hören des Wortes, das sich nicht mit gelehrten Kommentaren aus dem Ernst des Anrufs stiehlt. Aber mit der Schaffung des Dritten Ordens hat er dann doch die Unterscheidung angenommen zwischen dem radikalen Auftrag und dem notwendigen Leben in der Welt. Dritter Orden bedeutet, gerade den Auftrag des weltlichen Berufs und seiner Anforderungen in Demut anzunehmen, an dem je eigenen Standort, aber dabei doch hinzuleben auf die tiefe innere Gemeinschaft mit Christus, in der er uns voranging. "Haben, als hätte man nicht" (1 Kor 7,29ff): Diese innere Spannung als die vielleicht schwerere Forderung zu erlernen und sie im Mitgetragensein durch die Menschen der radikalen Nachfolge immer wieder neu wirklich leben zu können, das ist der Sinn der Dritten Orden, und darin erschließt sich, was die Seligpreisung für alle meinen kann. Vor allem wird an Franz auch deutlich, was "Reich Gottes" heißt. Franziskus stand ganz in der Kirche; und zugleich wächst in solchen Gestalten die Kirche in ihr künftiges und doch schon gegenwärtiges Ziel hinein: Reich Gottes kommt nahe ... (Fs)

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