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Autor: Ratzinger, Joseph

Buch: Jesus von Nazareth 1

Titel: Jesus von Nazareth

Stichwort: Seligpreisungen allgemein; Biographie Jesu

Kurzinhalt: Im Blick auf die Jüngergemeinde Jesu sind die Seligpreisungen Paradoxien - die weltlichen Maßstäbe werden umgestürzt, sobald die Dinge in der rechten Perspektive gesehen werden, nämlich von Gottes Wertung her, ...

Textausschnitt: 100a Die Seligpreisungen werden nicht selten als das neutestamentliche Gegenüber zum Dekalog, sozusagen als die höhere Ethik der Christen gegenüber den alttestamentlichen Geboten hingestellt. Mit einer solchen Auffassung verkennt man den Sinn dieser Worte Jesu vollständig. Jesus hat die Gültigkeit des Dekalogs immer selbstverständlich vorausgesetzt (vgl. z. B. Mk 10,19; Lk 16,17); in der Bergredigt werden die Gebote der zweiten Tafel aufgenommen und vertieft, aber nicht aufgehoben (Mt 5,21-48); das widerspräche auch diametral dem Grundsatz, der diesem Gespräch über den Dekalog vorausgeht: "Glaubt nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. Wahrlich, ich sage euch: Ehe denn Himmel und Erde vergehen, wird nicht ein einziges Jota oder ein einziges Häkchen vom Gesetz vergehen, bis alles erfüllt ist" {5,17f) Auf diesen Satz, der nur scheinbar im Widerspruch zur paulinischen Botschaft steht, werden wir nach dem Dialog zwischen Jesus und dem Rabbi zurückkommen müssen. Einstweilen genügt es zu sehen, dass Jesus nicht daran denkt, den Dekalog außer Kraft zu setzen - im Gegenteil: Er verstärkt ihn. (Fs)

100b Aber was sind die Seligpreisungen dann? Sie reihen sich zunächst in eine lange Tradition alttestamentlicher Botschaften ein, wie wir sie zum Beispiel im Psalm 1 und im Paralleltext Jer 17,7f finden: "Selig der Mann, der auf den Herrn vertraut..." Es sind Verheißungsworte, die zugleich zur Unterscheidung der Geister dienen und so zu Wegweisungen werden. Die Rahmung, die Lukas der Bergpredigt gibt, verdeutlicht die besondere Richtung der Seligpreisungen Jesu: "Er richtete seine Augen auf seine Jünger ..." Die einzelnen Glieder der Seligpreisungen ergeben sich aus dem Blick auf die Jünger; sie beschreiben sozusagen den Ist-Zustand der Jünger Jesu: Sie sind Arme, Hungernde, Weinende, gehasst und verfolgt (Lk 6,20ff). Es sind praktische, aber auch theologische Qualifikationen der Jünger gemeint - derer, die in die Nachfolge Jesu getreten und seine Familie geworden sind. (Fs)

104a Das wird noch deutlicher, wenn wir uns nun der Matthäus-Fassung der Seligpreisungen zuwenden (Mt 5,3-12). Wer den Matthäus-Text aufmerksam liest, wird inne, dass die Seligpreisungen wie eine verhüllte innere Biographie Jesu, wie ein Porträt seiner Gestalt dastehen. Er, der keinen Ort hat, wo er sein Haupt hinlegen kann (Mt 8,20), ist der wahrhaft Arme; er, der von sich sagen kann: Kommt zu mir, denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen (Mt 11,29), ist der wahrhaft Sanftmütige; er ist es, der reinen Herzens ist und daher Gott immerfort schaut. Er ist der Friedensstifter, er ist der um Gottes willen Leidende: In den Seligpreisungen erscheint das Geheimnis Christi selbst, und sie rufen uns in die Gemeinschaft mit Christus hinein. Aber eben wegen ihres verborgenen christologischen Charakters sind die Seligpreisungen auch Wegweisung für die Kirche, die in ihnen ihr Maßbild erkennen muss - Wegweisungen für die Nachfolge, die jeden Einzelnen berühren, wenn auch - gemäß der Vielfalt der Berufungen - in je verschiedener Weise. (Fs)


101a Aber die bedrohliche empirische Situation, in der Jesus die Seinen sieht, wird zur Verheißung, wenn der Blick auf sie vom Vater her erleuchtet wird. Im Blick auf die Jüngergemeinde Jesu sind die Seligpreisungen Paradoxien - die weltlichen Maßstäbe werden umgestürzt, sobald die Dinge in der rechten Perspektive gesehen werden, nämlich von Gottes Wertung her, die anders ist als die Wertungen der Welt. Gerade die weltlich Armen und als verloren Angesehenen sind die wahrhaft Glücklichen, die Gesegneten, und dürfen in all ihren Leiden sich freuen und jubeln. Die Seligpreisungen sind Verheißungen, in denen das neue Bild von Welt und Mensch aufleuchtet, das Jesus eröffnet, die "Umwertung der Werte". Sie sind eschatologische Zusagen; aber das darf nicht in dem Sinn verstanden werden, als ob die darin angekündigte Freude in eine endlos entfernte Zukunft oder ausschließlich ins Jenseits verschoben wäre. Wenn der Mensch anfängt, von Gott her zu sehen und zu leben, wenn er in der Weggemeinschaft mit Jesus steht, dann lebt er von neuen Maßstäben her, und dann wird etwas vom "Eschaton", vom Kommenden, jetzt schon präsent. Von Jesus her kommt Freude in die Drangsal. (Fs)

102a Die Paradoxien, die Jesus in den Seligpreisungen vorstellt, drücken die wahre Situation des Glaubenden in der Welt aus, wie sie Paulus aus seiner Lebens- und Leidenserfahrung als Apostel wiederholt beschrieben hat: "Wir gelten als Betrüger und sind doch wahrhaftig, wir werden verkannt und doch anerkannt; wir sind wie Sterbende, und siehe: wir leben; wir werden gezüchtigt und doch nicht getötet; uns wird Leid zugefügt und doch sind wir jederzeit fröhlich; wir sind arm und machen doch viele reich; wir haben nichts und haben doch alles" (2 Kor 6,8-10). "Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch Raum; wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht; wir werden gehetzt und sind doch nicht verlassen; wir werden niedergestreckt und doch nicht vernichtet ..." (2 Kor 4,8-10). Was in den Seligpreisungen des Lukas-Evangeliums Zuspruch und Verheißung ist, ist bei Paulus die gelebte Erfahrung des Apostels. Er fühlt sich "auf den letzten Platz gestellt", wie ein Todgeweihter und zum Spektakel geworden für die Welt, heimatlos, beschimpft, geschmäht (1 Kor 4,9-13). Und doch macht er die Erfahrung einer unendlichen Freude; gerade als der Ausgelieferte, der sich selbst weggegeben hatte, um Christus zu den Menschen zu bringen, erfährt er den inneren Zusammenhang von Kreuz und Auferstehung: Wir werden dem Tod ausgeliefert, "damit auch das Leben Jesu in unserem sterblichen Leib offenbar wird" (2 Kor 4,11). In seinen Boten leidet Christus immer noch, ist immer noch das Kreuz sein Ort. Aber er ist doch unwiderruflich der Auferstandene. Und wenn auch der Bote Jesu in dieser Welt noch in der Leidensgeschichte Jesu steht, so ist darin der Glanz der Auferstehung dennoch spürbar und schafft eine Freude, eine "Seligkeit", die größer ist als das Glück, das er vorher auf weltlichen Wegen erfahren haben mochte. Jetzt weiß er erst, was wirklich "Glück", was wahre "Seligkeit" ist und erkennt dabei, wie armselig das war, was von den üblichen Maßstäben her als Befriedigung und Glück angesehen werden muss. (Fs)

103a In den Paradoxien der Lebenserfahrung des heiligen Paulus, die den Paradoxien der Seligpreisungen entsprechen, zeigt sich so das Gleiche, was noch einmal anders Johannes ausgedrückt hatte, indem er das Kreuz des Herrn als "Erhöhung", als Inthronisation in die Höhe Gottes hinein bezeichnete. Johannes zieht Kreuz und Auferstehung, Kreuz und Erhöhung in einem Wort zusammen, weil für ihn in der Tat das eine untrennbar ist vom anderen. Das Kreuz ist der Akt des "Exodus", der Akt der Liebe, die bis zum Äußersten Ernst macht und bis "ans Ende" geht (Joh 13,1), und darum ist es der Ort der Herrlichkeit - der Ort der eigentlichen Berührung und Einung mit Gott, der die Liebe ist (1 Joh 4,7.16). So ist in dieser johanneischen Vision in letzter Weise verdichtet und unserem Verstehen nahegebracht, was die Paradoxien der Bergpredigt bedeuten. (Fs)

103b Der Blick auf Paulus und auf Johannes hat uns zwei Dinge sichtbar gemacht: Die Seligpreisungen drücken aus, was Jüngerschaft bedeutet. Sie werden umso konkreter und umso realer, je vollständiger die Hingabe an den Dienst des Jüngers ist, wie wir sie in Paulus exemplarisch erleben können. Was sie bedeuten, ist nicht rein theoretisch auszusagen; es wird angesagt im Leben und Leiden und in der geheimnisvollen Freude des Jüngers, der sich ganz in die Nachfolge des Herrn hineingegeben hat. So wird ein Zweites deutlich: der christologische Charakter der Seligpreisungen. Der Jünger ist an das Geheimnis Christi gebunden. Sein Leben ist eingetaucht in die Gemeinschaft mit Christus: "nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir" (Gal 2,20). Die Seligpreisungen sind Umsetzung von Kreuz und Auferstehung in die Jüngerexistenz. Aber sie gelten für den Jünger, weil sie zuallererst urbildlich in Christus selbst verwirklicht sind. (Fs)

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