Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Jesus von Nazareth 1 Titel: Jesus von Nazareth Stichwort: 2. Versuchung Jesu; Solowjew (Antichrist); kein Sprung vom Tempel, sondern in die Tiefe des Todes
Kurzinhalt: So erscheint der wirkliche Sinn von Psalm 91 her, das Recht zu jenem letzten und unbegrenzten Vertrauen, von dem darin die Rede ist: Wer dem Willen Gottes folgt, der weiß, ...
Textausschnitt: 63b Kommen wir zur zweiten Versuchung Jesu, deren exemplarische Bedeutung in mancher Hinsicht am schwersten zu verstehen ist. Die Versuchung ist als eine Art Vision aufzufassen, in der wiederum Wirklichkeit, eine besondere Gefährdung des Menschen und des Auftrags Jesu zusammengefasst ist. Zunächst ist da etwas Auffälliges. Der Teufel zitiert die Heilige Schrift, um Jesus in seine Falle zu locken. Er zitiert den Psalm 91,11f, der von dem Schutz spricht, den Gott dem gläubigen Menschen gewährt: "Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu hüten auf allen deinen Wegen. Sie tragen dich auf ihren Händen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt." Dieses Wort gewinnt dadurch noch besonderes Gewicht, dass es in der Heiligen Stadt, an heiligem Ort gesprochen ist. In der Tat ist der zitierte Psalm an den Tempel gebunden; sein Beter erhofft sich Schutz im Tempel, denn die Wohnung Gottes muss als besondere Stätte göttlichen Schutzes gelten. Wo sollte der Mensch, der an Gott glaubt, sich sicherer wissen dürfen als im heiligen Bereich des Tempels ? (ausführlicher dazu Gnilka, Das Matthäusevangelium 1, a. a. O., S. 88f). Der Teufel erweist sich als Schriftkenner, der den Psalm genau zu zitieren weiß; das ganze Gespräch der zweiten Versuchung erscheint förmlich wie ein Streit zweier Schriftgelehrter: Der Teufel tritt als Theologe auf, bemerkt Joachim Gnilka dazu. (Fs)
64a Wladimir Solowjew hat dieses Motiv in seiner Kurzen Erzählung vom Antichrist aufgenommen: Der Antichrist empfängt von der Universität Tübingen den Ehrendoktor der Theologie; er ist ein großer Bibelgelehrter. Solowjew hat mit dieser Darstellung seine Skepsis gegenüber einem gewissen Typ exegetischer Gelehrsamkeit seiner Zeit drastisch ausgedrückt. Das ist kein Nein zur wissenschaftlichen Bibelauslegung als solcher, aber eine höchst heilsame und notwendige Warnung vor ihren möglichen Irrwegen. Bibelauslegung kann in der Tat zum Instrument des Antichrist werden. Das sagt uns nicht erst Solowjew, das ist die innere Aussage der Versuchungsgeschichte selbst. Aus scheinbaren Ergebnissen der wissenschaftlichen Exegese sind die schlimmsten Bücher der Zerstörung der Gestalt Jesu, der Demontage des Glaubens geflochten worden. (Fs)
64b Heute wird die Bibel weithin dem Maßstab des so-genannten modernen Weltbildes unterworfen, dessen Grunddogma es ist, dass Gott in der Geschichte gar nicht handeln kann - dass also alles, was Gott betrifft, in den Bereich des Subjektiven zu verlegen sei. Dann spricht die Bibel nicht mehr von Gott, dem lebendigen Gott, sondern dann sprechen nur noch wir selber und bestimmen, was Gott tun kann und was wir tun wollen oder sollen. Und der Antichrist sagt uns dann mit der Gebärde hoher Wissenschaftlichkeit, dass eine Exegese, die die Bibel im Glauben an den lebendigen Gott liest und ihm selbst dabei zuhört, Fundamentalismus sei; nur seine Exegese, die angeblich rein wissenschaftliche, in der Gott selbst nichts sagt und nichts zu sagen hat, sei auf der Höhe der Zeit. (Fs)
65a Das theologische Streitgespräch zwischen Jesus und dem Teufel ist ein alle Zeiten betreffender Disput um die rechte Schriftauslegung, deren grundlegende hermeneutische Frage die Frage nach dem Gottesbild ist. Der Streit um die Auslegung ist letztlich ein Streit darum, wer Gott ist. Dieses Ringen um das Gottesbild, um das es im Disput um die gültige Schriftauslegung geht, entscheidet sich aber konkret am Bild Christi: Ist er, der ohne weltliche Macht geblieben ist, wirklich der Sohn des lebendigen Gottes. (Fs)
65b So führt die strukturelle Frage des merkwürdigen Schriftgesprächs zwischen Christus und dem Versucher direkt in die inhaltliche Frage hinein. Worum geht es da? Man hat diese Versuchung mit dem Motiv von "Brot und Spiele" zusammengebracht: Nach dem Brot müsse die Sensation geboten werden. Da die bloße körperliche Sättigung ganz offensichtlich dem Menschen nicht ausreicht, müsse der, der Gott nicht in die Welt und in den Menschen einlassen will, den Kitzel spannender Erregungen bieten, deren Schauer die religiöse Ergriffenheit ersetzt und verdrängt. Aber das kann an dieser Stelle wohl nicht gemeint sein, da in der Versuchung anscheinend keine Zuschauer vorausgesetzt werden. (Fs)
65c Der Punkt, um den es geht, erscheint in der Antwort Jesu (Mt 4,7), die wiederum dem Deuteronomium (6,16) entnommen ist: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen!" Das ist im Deuteronomium eine Anspielung auf die Geschichte, wie Israel vor Durst in der Wüste umzukommen drohte. Es kommt zur Rebellion gegen Mose, die eine Rebellion gegen Gott wird. Gott muss zeigen, dass er Gott ist. Diese Rebellion gegen Gott wird in der Bibel so beschrieben: "Sie stellten den Herrn auf die Probe, indem sie sagten: Ist der Herr in unserer Mitte oder nicht?" (Ex 17,7). Es geht also um das, was vorhin schon angeklungen war: Gott muss sich dem Experiment stellen. Er wird "erprobt", wie man Waren ausprobiert. Er muss sich den Bedingungen unterwerfen, die wir für unsere Gewissheit als nötig erklären. Wenn er jetzt den von Psalm 91 zugesagten Schutz nicht gewährt, dann ist er eben nicht Gott. Dann hat er sein eigenes Wort und so sich selbst falsifiziert. (Fs)
66a Die ganze große Frage, wie man Gott erkennen und wie man ihn nicht erkennen kann, wie der Mensch zu Gott stehen und wie er ihn verlieren kann, steht hier vor uns. Der Hochmut, der Gott zum Objekt machen und ihm unsere Laborbedingungen auflegen will, kann Gott nicht finden. Denn er setzt bereits voraus, dass wir Gott als Gott leugnen, weil wir uns über ihn stellen. Weil wir die ganze Dimension der Liebe, des inneren Hörens ablegen und nur noch das Experimentierbare, das in unsere Hand gegeben ist, als wirklich anerkennen. Wer so denkt, macht sich selbst zu Gott und erniedrigt dabei nicht nur Gott, sondern die Welt und sich selber. (Fs)
66b Von dieser Szene auf der Tempelzinne aus öffnet sich aber auch der Blick auf das Kreuz hin. Christus hat sich nicht von der Tempelzinne gestürzt. Er ist nicht in die Tiefe gesprungen. Er hat Gott nicht versucht. Aber er ist in die Tiefe des Todes hinabgestiegen, in die Nacht der Verlassenheit, in die Ausgesetztheit der Wehrlosen. Er hat diesen Sprung gewagt als Akt der Liebe von Gott her für die Menschen. Und deshalb wusste er, dass er bei diesem Sprung zuletzt nur in die gütigen Hände des Vaters fallen konnte. So erscheint der wirkliche Sinn von Psalm 91 her, das Recht zu jenem letzten und unbegrenzten Vertrauen, von dem darin die Rede ist: Wer dem Willen Gottes folgt, der weiß, dass er in allen Schrecknissen, die ihm widerfahren, einen letzten Schutz nicht verliert. Der weiß, dass der Grund der Welt Liebe ist und dass er daher auch da, wo kein Mensch ihm helfen kann oder will, im Vertrauen auf den weitergehen darf, der ihn liebt. Solches Vertrauen, zu dem die Schrift uns ermächtigt und zu dem der Herr, der Auferstandene, uns einlädt, ist aber etwas ganz anderes als die abenteuerliche Herausforderung Gottes, die Gott zu unserem Knecht machen möchte. (Fs)
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