Autor: Ratzinger, Joseph Buch: Jesus von Nazareth 1 Titel: Jesus von Nazareth Stichwort: 1. Versuchung Jesu; "Gottesbeweis": Brot, Sichtbarkeit der Größe Gottes Kurzinhalt: ... was widerspricht mehr dem Glauben an einen guten Gott und dem Glauben an einen Erlöser der Menschen als der Hunger in der Menschheit? ... Wo diese Ordnung der Güter nicht geachtet, ... da entsteht nicht mehr Gerechtigkeit ...
Textausschnitt: 58b "Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird" (Mt 4,3) - so lautet die erste Versuchung. "Wenn du Gottes Sohn bist ..." - wir werden dieses Wort wieder von den Spöttern unter dem Kreuz hören: "Wenn du der Sohn Gottes bist, dann steig doch herab vom Kreuz..." (Mt 27,40). Das Buch der Weisheit hat diese Situation schon vorausgesehen: "Wenn der Gerechte wirklich Gottes Sohn ist, dann nimmt sich Gott seiner an ..." (2,18). Spott und Versuchung gehen hier ineinander über: Christus soll den Beweis für seinen Anspruch antreten, um glaubhaft zu werden. Diese Beweisforderung geht durch die ganze Lebensgeschichte Jesu hindurch, in der ihm immer wieder vorgehalten wird, dass er sich nicht genügend ausgewiesen habe, dass er doch das große Wunder tun müsse, das alle Zweideutigkeit und allen Widerspruch aufhebt und für jeden unbestreitbar klarstellt, wer und was er ist oder nicht ist. (Fs)
59a Und diese Forderung halten wir doch Gott und Christus und seiner Kirche die ganze Geschichte hindurch entgegen: Wenn es dich gibt, Gott, dann musst du dich zeigen. Dann musst du die Wolke deiner Verborgenheit aufreißen und uns die Klarheit geben, auf die wir Anspruch haben. Wenn du, Christus, wirklich der Sohn bist und nicht einer der Erleuchteten, wie sie immer wieder in der Geschichte auftraten, dann musst du es eben deutlicher zeigen, als du es tust. Und dann musst du deiner Kirche, wenn sie schon die deine sein soll, ein anderes Maß an Eindeutigkeit geben, als es ihr in Wirklichkeit eignet. (Fs)
59b Wir werden auf diesen Punkt bei der zweiten Versuchung zurückkommen, deren eigentliches Zentrum er bildet. Der Gottesbeweis, den der Versucher bei der ersten Versuchung vorschlägt, besteht darin, die Steine der Wüste zu Brot zu machen. Zunächst geht es um den Hunger Jesu selbst - so hat Lukas es gesehen: "Sag zu diesem Stein, dass er Brot wird" (Lk 4,3). Aber Matthäus versteht die Versuchung weiträumiger, so wie sie dann schon zu Lebzeiten des irdischen Jesus und die ganze Geschichte hindurch immer wieder an ihn herangetragen wurde und herangetragen wird. (Fs)
60a Was ist tragischer, was widerspricht mehr dem Glauben an einen guten Gott und dem Glauben an einen Erlöser der Menschen als der Hunger in der Menschheit? Muss es nicht der erste Ausweis des Erlösers vor der Welt und für die Welt sein, dass er ihr Brot gibt und dass aller Hunger endet? In der Zeit der Wüstenwanderung hatte Gott das Volk Israel durch Brot vom Himmel, durch das Manna ernährt. Darin glaubte man ein Bild der messianischen Zeit erkennen zu dürfen: Musste nicht und muss nicht der Erlöser der Welt sich dadurch ausweisen, dass er allen zu essen gibt? Ist nicht das Problem der Welternährung - und allgemeiner: die sozialen Probleme - der erste und eigentliche Maßstab, an dem Erlösung gemessen werden muss? Kann jemand zu Recht Erlöser heißen, der diesem Maßstab nicht genügt? Der Marxismus hat genau dies -höchst begreiflicherweise - zum Kern seiner Heilsverheißung gemacht: Er werde dafür sorgen, dass aller Hunger endet und dass die "Wüste zu Brot wird" ... (Fs)
60b "Wenn du der Sohn Gottes bist ..." - welche Herausforderung. Und muss man nicht dasselbe zur Kirche sagen: Wenn du Kirche Gottes sein willst, dann kümmere dich zuallererst um Brot für die Welt - das andere kommt hernach. Es ist schwer, auf diese Herausforderung zu antworten, gerade weil uns der Schrei der Hungernden so sehr in die Ohren und in die Seele dringt und dringen muss. Die Antwort Jesu kann man von der Versuchungsgeschichte allein her nicht verstehen. Das Brot-Thema durchdringt das ganze Evangelium und muss in seiner ganzen Erstreckung gesehen werden. (Fs)
61a Es gibt noch zwei weitere große Brotgeschichten im Leben Jesu. Da ist die Brotvermehrung für die Tausenden, die dem Herrn in die Einsamkeit gefolgt sind. Warum wird nun getan, was vorher als Versuchung zurückgewiesen worden war? Die Menschen waren gekommen, um Gottes Wort zu hören, und hatten alles andere dafür liegengelassen. Und so, als Menschen, die ihr Herz für Gott und füreinander geöffnet haben, können sie das Brot in der rechten Weise empfangen. Zu diesem Brotwunder gehört also dreierlei: Die Suche nach Gott, nach seinem Wort, nach der rechten Weisung für das ganze Leben ist vorangegangen. Das Brot wird des Weiteren von Gott erbeten. Und endlich ist die gegenseitige Bereitschaft des Teilens ein wesentliches Element des Wunders. Das Hören auf Gott wird zum Leben mit Gott, und es führt vom Glauben zur Liebe, zur Entdeckung des anderen. Jesus ist gegenüber dem Hunger der Menschen, ihrem leiblichen Bedürfen, nicht gleichgültig, aber er stellt es in den rechten Zusammenhang und gibt ihm die rechte Ordnung. (Fs)
61b Diese zweite Brotgeschichte weist damit voraus auf die dritte und ist Vorbereitung für sie: das Letzte Abendmahl, das zur Eucharistie der Kirche und zum immerwährenden Brotwunder Jesu wird. Jesus ist selbst zum gestorbenen Weizenkorn geworden, das reiche Frucht bringt (Joh 12,24). Er ist selbst Brot für uns geworden, und diese Brotvermehrung dauert unerschöpflich bis zum Ende der Zeiten. So verstehen wir jetzt das Wort Jesu, das er dem Alten Testament (Dtn 8,3) entnimmt, um damit den Versucher zurückzuweisen: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Munde kommt" (Mt 4,4). Es gibt dazu einen Satz des von den Nationalsozialisten hingerichteten deutschen Jesuiten Alfred Delp: "Brot ist wichtig, Freiheit ist wichtiger, am wichtigsten aber die ungebrochene Treue und die unverratene Anbetung. (Fs)
62a Wo diese Ordnung der Güter nicht geachtet, sondern auf den Kopf gestellt wird, da entsteht nicht mehr Gerechtigkeit, da wird nicht mehr für den leidenden Menschen gesorgt, sondern da wird gerade auch der Bereich der materiellen Güter zerrüttet und zerstört. Wo Gott als sekundäre Größe angesehen wird, die man zeitweise oder überhaupt wichtigerer Dinge wegen beiseitelassen kann, da scheitern gerade diese vermeintlich wichtigeren Dinge. Nicht nur der negative Ausgang des marxistischen Experiments beweist das. (Fs)
62b Die auf rein technisch-materiellen Prinzipien aufgebaute Entwicklungshilfe des Westens, die Gott nicht nur ausgelassen, sondern die Menschen von Gott abgedrängt hat mit dem Stolz ihrer Besserwisserei, hat erst die Dritte Welt zur Dritten Welt im heutigen Sinn gemacht. Sie hat die gewachsenen religiösen, sittlichen und sozialen Strukturen beiseitegeschoben und ihre technizistische Mentalität ins Leere hineingestellt. Sie glaubte, Steine in Brot verwandeln zu können, aber sie hat Steine für Brot gegeben. Es geht um den Primat Gottes. Es geht darum, ihn als Wirklichkeit anzuerkennen, als Wirklichkeit, ohne die nichts anderes gut sein kann. Die Geschichte kann nicht abseits von Gott durch bloß materielle Strukturen geregelt werden. Wenn das Herz des Menschen nicht gut ist, dann kann nichts anderes gut werden. Und die Güte des Herzens kann letztlich nur von dem kommen, der die Güte - das Gute - selbst ist. (Fs)
63a Natürlich kann man fragen, warum Gott nicht eine Welt gemacht hat, in der seine Gegenwart offenkundiger ist; warum Christus nicht einen anderen, jeden unwiderstehlich treffenden Glanz seiner Gegenwart zurückgelassen hat. Das ist das Geheimnis von Gott und Mensch, das wir nicht durchdringen können. Wir leben in dieser Welt, in der Gott eben nicht die Evidenz des Greifbaren hat, sondern nur durch den Aufbruch des Herzens, den "Exodus" aus "Ägypten", gesucht und gefunden werden kann. In dieser Welt müssen wir uns den Täuschungen falscher Philosophien widersetzen und erkennen, dass wir nicht vom Brot allein leben, sondern zuallererst vom Gehorsam gegen Gottes Wort. Und erst wo dieser Gehorsam gelebt wird, wächst die Gesinnung, die auch Brot für alle zu schaffen vermag. (Fs)
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