Autor: Mehrere Autoren: Saeculum Weltgeschichte Buch: Saeculum Weltgeschichte Bd. 7 Titel: SELBST- UND WELTVERSTÄNDNIS NACH DER REVOLUTION Stichwort: Moderne Lyrik; Baudelaire, Mysterium iniquitatis; Rimbaud, Mallarmé; T.S. Eliot; Ontologie des nichts, des Nu; Heidegger
Kurzinhalt: "Die Phantasie zerlegt die ganze Schöpfung; nach Gesetzen, die im tiefsten Seeleninnern entspringen, sammelt und gliedert sie die Teile und erzeugt daraus eine neue Welt."
Textausschnitt: 428c Charles Baudelaire läßt noch einmal den Weg erkennen, den man hergekommen ist, auch in der Nomenklatur seiner Bilder. Alle Irrtümer der Zeit seien "nur die Folge der einen großen modernen Häresie: der Ausmerzung der Idee der Erbsünde", schrieb der Dichter der "Fleurs du mal", die ursprünglich den Titel "Limbes" (Limbus = "Vorhölle") tragen sollten. Es wurde Baudelaire der Prozeß wegen der Gedichte "Lesbos" und "Femmes damnées" gemacht; aber die Justiz kann eine "ausgemerzte Idee" nicht wieder beleben. "O Mort, vieux capitaine, il est temps! Levons l'ancre": Das Todesverlangen ist die Antwort auf die einsame, nur noch am Rande des christlichen Glaubens gemachte Entdeckung des "Mysterium iniquitatis" inmitten der produzierenden Gesellschaft. Baudelaire hat auch theoretisch die Voraussetzung der Sprachmagie von einen Punkt aus beschrieben, der gerade eben noch einmal einen Rückblick erlaubt: "Die Phantasie zerlegt die ganze Schöpfung; nach Gesetzen, die im tiefsten Seeleninnern entspringen, sammelt und gliedert sie die Teile und erzeugt daraus eine neue Welt." Die "Schöpfung" wird zerlegt, die ursprüngliche, ihm vorgegebene Heimat des Menschen und seines Miteinanderseins. Dies tun auch die Naturwissenschaften, aber nicht mit der Phantasie, sondern mit der auf Empirie ausgehenden Analyse des ganzheitlichen Dinges, das sie auf den Objektträger legen. Wie aber kommt der Dichter dazu, das scheinbar gleiche zu tun, nämlich auch zu zerlegen, aber nicht um die wirkenden Gesetze zu entdecken, sondern um nach den Gesetzen seines "Seeleninnern" aus den Teilen eine neue Welt zu "erzeugen"? Es ist wider die "Vernunft" des traditionellen, des "schauenden" und "deutenden" Dichters, seine geheimnisvolle Behausung zu zerstören. Es muß eine Katastrophe geschehen sein, die ihn dazu zwingt, diese Tradition zu verlassen. Er ist schon nicht mehr in der Schöpfung, in der Welt der Dinge, behaust, wenn er daran geht, sie zu zerlegen, sie, die ihm bereits fremd geworden ist. Das Zerlegen ist nur das Mittel, die neue Welt zu erzeugen, die er erzeugen muß, weil die alte abhanden gekommen ist. Die Naturwissenschaften machen in ihren technischen Konsequenzen die alte Welt brauchbar und erzeugen freilich damit auf ihre Weise eine neue Welt. Aber dies ist nicht die "neue Welt" der Dichter, die nicht nur unbrauchbar ist, sondern es sein will und muß. Er sei an den Herkulessäulen der literarischen Welt angekommen, sagte man von Arthur Rimbaud, dem Dichter von "Une saison en enfer", dieser leidenschaftlichen Absage an Europa und seine ganze geistige und formale Tradition. Im Jahre 1874 begab sich Rimbaud ins Schweigen, nach dem Bruch der Freundschaft mit Paul Verlaine (1844-1896) in einer Eifersuchtstragödie; seit 1880 ist er Handelsvertreter in Afrika, auch im Waffengeschäft - der Dichter, von dem gesagt wurde, der "Aufenthalt im Irdischen wird unmöglich gemacht" (J. Rivière). Aber die "Freiheit der Dinge", die keinem Nutzen mehr dienen, muß "furchtbar" genannt werden. Es ist der gleiche Vorgang wie bei der Zeit: ihre Verinnerlichung, ihre anthropomorphe Wendung, führt in die Enthumanisierung der Zeit. Die Welt der Dinge, die in der Phantasie erzeugt wird, führt in die Enthumanisierung der Dinge, in die Vor-Geschichte (nicht als Prähistorie). Eine erschreckende Dialektik: die Technik macht die Dinge immer brauchbarer, bis sie keine Dinge mehr sind - die Wiederherstellung der Dinge in der Phantasie befreit sie aus dem Dienst, der ihnen im Schöpfungsakt aufgetragen ist. Im "Nutzen" der Dinge, innerhalb dessen die technische Brauchbarkeit nur ein Teil ist, ist das Verhältnis zwischen Mensch und Ding grundgelegt. Dieser Nutzen ist verdorben, in zwiefacher Weise. (Fs)
429a Die "Sprachmagie" der modernen Lyrik ist durchaus ambivalent. Wer ist der Magier, der Dichter oder die Sprache? Rimbaud hatte "Form und Bewegung jedes Konsonanten" berechnet und das "dichterische Urwort" finden wollen, das einmal allen Sinnen zugänglich sein könnte. Aber die magisch beschworene Sprache wird selbst zum Subjekt, das Impulse ausstrahlt, führt auf einen Weg, an dessen Ende erst sich Gehalte einfinden (können). "Das "Wort als Ton und Suggestion ist getrennt vom Wort als Diener eines mitteilbaren Sinngefüges" (H. Friedrich). Als Ton und Suggestion verweist es nicht auf den Logos. "Den Anstoß dem Wort überlassen", mit dieser Maxime suchte Mallarmé, einer der bedeutendsten Repräsentanten des Symbolismus, der nicht nur in Frankreich gefeierte "prince des poètes", der mit seinen "mardi"-Empfängen in Paris einen berühmten literarischen Mittelpunkt ausmachte, nach der wahren Wirklichkeit, die der Naturalismus nur vorgelogen habe; es war eine kunstvolle Wirklichkeit, die sich aus der assoziativen Kraft der Sprache enthüllen sollte, und es war eine Suche, die sich als permanente literarische Revolution verstand. (Fs) (notabene)
430a Es muß das Mißverständnis vermieden werden, als sei die Arationalität dieser Dichtung so etwas wie der Irrationalismus, als dessen Gefangenen Hermann Broch (Seite 414) den Menschen gesehen hat; am nächsten steht die vielleicht einer Gott-losen Mystik, die wie alle Mystik nicht irrational ist, sondern die Rationalität übersteigt. Die Richtung des Uberstiegs ist freilich verschieden. Dies wird deutlich bei Dichtern wie Mallarmé und bei dem aus seinem Bereich kommenden Valéry, der zusammen mit Thomas Stearns Eliot (Seite 434) die verstärkte Intellektualität der Lyrik des 20. Jahrhunderts repräsentiert. Es wird hier nichts von dem zurückgenommen, was seit Baudelaire geschehen ist; aber die gedanklichen Momente werden stärker. Man hat von einer Ontologie dieser Dichtung gesprochen, einer dichterischen Ontologie. Bei Mallarmé und Valéry ist es die Ontologie des Nichts und des Niemals, bei T. S. Eliot des "Nu" im Anfang und Ende. Wenn Valéry, der seit 1936 am Collège de France Vorlesungen über Poetik hielt, sagen kann, das Wort sei "das Mittel des Geistes, sich im Nichts zu vervielfachen", dann ist das Wort wieder Diener, wenn auch der Negation des Sinngefüges : das Gedicht ist für ihn "ein vollendet durchgeformtes Bruchstück eines nicht existierenden Baues". Aber man muß sehr wohl bedenken, wie Valéry die "pensée" und den "sommeil" einander gegenübergestellt hat: "Toute l'histoire de la pensée n'est que le jeu d'une infinité de petits cauchemars, à grandes conséquences, tandis que dans les sommeils s'observe de grands cauchemars à très courte et très faible conséquence." Es ist bemerkenswert, welche Bedeutung in diesen Jahrzehnten der Philosophie H. Bergsons zukommt, der es entscheidend um den "Kontakt mit der Wirklichkeit" geht, die zwar nicht voll in den Begriff gebracht werden, aber in der "Intuition" und im "agir et se savoir agir" ergriffen werden kann, dies freilich in der Voraussetzung einer Mitmenschlichkeit, die in der modernen Lyrik verstummt ist. Im Jahre 1923 erschien Martin Bubers "Ich und Du", Begründung des Dialogs im "ewigen Du" aus einer Überlieferung her, die diesen Dichtern unzugänglich geworden war. (Fs)
430b Die bohrende Frage nach der Wirklichkeit des Wirklichen wird inmitten einer Realität gestellt, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigläßt, sich jedenfalls bis jetzt diesen Anschein gegeben hat: der Technik (vgl. Seite 459-470). Es ist nun keineswegs so, daß man meint, sie aussparen, neben ihr eine souveräne Welt erzeugen zu können. Für die Lyrik Baudelaires und Rimbauds liefert sie Bild um Bild, verändert sie die Landschaft des traditionellen Gedichtes radikal. Aber es sind die dunklen Bilder des Ekels und der Fäulnis. Der irische Lyriker William B. Yeats (1865-1939), der in den zwanziger Jahren seine Gedichte dem Schicksal der Weltkulturen im Zeitalter der Technik widmete, im Alter die Upanishaden übersetzte, prognostizierte eine "ständig wachsende Distanzierung der kultivierten Gesellschaftsschicht von der Gesellschaft als Ganzem". Bei Federico Garcia Lorca (1898-1936) wird die Weltstadt zum Gegenstand inbrünstigen Hasses, und John Dos Passos (geb. 1896) hat in die Wohnungen New Yorks hineingeschaut, wo die Gegenstände die Menschen mit dem "Staub des Gestern, des Vorgestern, des Vorvorgestern" umdrängen, während draußen das "ohrenbetäubende Rasseln der Blitzzüge" tobt. In der Seinsgeschichte M. Heideggers ist die Technik der vollendete Ausdruck der Seinsvergessenheit. Es ist eine der wichtigsten Signaturen unseres Zeitalters, daß der Ingenieur unentwegt an der technischen Welt weiterbaut, sie alle benutzen und bis gestern jeden Preis dafür zu zahlen bereit waren, sie aber keiner preist, nur etwa der Flieger Antoine de Saint-Exupéry (1944 abgestürzt) im "Vol de nuit". Von der Architektur, die sich auf sie einlassen muß, ist noch zu handeln (S. 459 ff.). (Fs)
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