Autor: Gehlen, Arnold Buch: Die Seele im technischen Zeitalter Titel: Die Seele im technischen Zeitalter Stichwort: Askese (Abwesenheit aller asketischen Ideale); Aufklärung -> Planungsoptimismus; Scheler: Pleonexie
Kurzinhalt: Das Zeitalter der Aufklärung scheint uns abgelaufen, ihre Prämissen sind tot, aber ihre Konsequenzen laufen weiter, ...
Textausschnitt: 83a Wie wir zeigten, hat der Übergang zum Industrialismus einige von den Prämissen menschlicher Ordnung und Gesittung entkräftet, die seit Jahrtausenden eingelebt waren. Unter dem psychomoralischen Gesichtspunkt ist es entscheidend, daß es gegenüber der anorganischen Natur, der Kohle, der Elektrizität, den Atomenergien keine ethische Einstellung gibt, daß also die Vorstellung einer Beschränkung der erlaubten Mittel nicht schon an der Grundproduktion ansetzt und von ihr her im Alltag durchgehalten wird. Der versachlichte Kosmos der industriellen Produktions- und Verkehrswirtschaft ist, wie schon gesagt, direkten ethischen Anforderungen unzugänglich, die hier überall ihren Sinn verlieren. Die Superstrukturen der »Privatwirtschaft« unterscheiden sich in dieser Hinsicht auch nicht von denen der »Planwirtschaft« - gegenüber der anorganischen Natur und ihren in Arbeit umsetzbaren Energien ist keine andere Einstellung als die des »maitre et possesseur« denkbar. Schon in dem Ausgangstatbestand des gesamten Bereiches, nämlich im Experiment, ist dies mitgegeben, denn was überhaupt an Naturprozessen erkannt ist, ist aus dem Experiment erkannt, und man hat es zugleich und unmittelbar damit in der Hand. Man beherrscht den Vorgang nur insofern theoretisch, als man ihn auch praktisch beherrscht. Es gibt gegenüber der anorganischen Natur, ihrer Erkenntnis und Ausnützung, von vornherein keinerlei ethische, sondern nur technische Grenzen der Zielsetzung, die wiederum eo ipso nur vorläufige sind, oder es gibt von der Sache her keinerlei Hemmungen in der Ausbreitung des Herrschaftswillens. Diese Tendenz geht in die psychomoralischen Fundamente einer Weltzivilisation ein, in der die Kultur des Lebendigen, die Agrarkultur, zu einer Beschränkung um 15 % der Gesamtbevölkerung herum tendiert. Kein Wunder, daß sich eine unbestimmte Angst ausbreitet. Nicht vor den ungeheuren destruktiven Energien der Atomkerne haben die Menschen Angst, sondern vor den eigenen, nicht vor der H-Bombe, sondern vor sich, in dem richtigen Instinkt, daß die inneren Hemmungen vor der Verwendung dessen, was man in der Hand hat, nicht wohl plötzlich von den Endstadien einer Entwicklung ausgehen können, deren Gesetz seit 200 Jahren gerade der Abbau solcher Hemmungen, die Freilegung rein sachlicher, rationaler und technischer Effizienz ist. (Fs) (notabene)
84a Zur Beurteilung von zwei gleich darzustellenden, für die sozialpsychologische Situation recht maßgebenden »kommandierenden Bedürfnissen« (Nietzsche)* ist zu bedenken, daß 200 Jahre Aufklärung die reelle Voraussetzung unserer geistigen Konstitution sind, so daß sich alle irrationalistischen Gegenbewegungen - wie z.B. der Existentialismus - durchaus innerhalb des Terrains abspielen, das die Aufklärung erobert hat. Ihre Blütezeit geht vorbei, die von ihr heraufgerufene Epoche scheint beendet, aber sie hat tiefe und bewußtlose Spuren in uns hinterlassen. So ist schon die exzessive Mitteilungsfähigkeit der modernen Seele ein Erzeugnis der Aufklärungskultur, und sie wäre im 16. Jahrhundert unmöglich gewesen. Ebendies gilt von der selbstverständlichen, schon wieder unbewußten Reflektiertheit, die alle wesentlichen geistigen Kategorien haben. Wer z. B. über die Religiosität spricht anstatt über Gott, denkt schon innerhalb der Aufklärungstradition. (Fs)
84b Das Zeitalter der Aufklärung scheint uns abgelaufen, ihre Prämissen sind tot, aber ihre Konsequenzen laufen weiter, einschließlich der Selbstverständlichkeiten, die seit dieser Epoche in uns sich verwurzelt haben. Diese Prämissen sind abgelebt, sagten wir: daß die in allen Menschen gleiche Vernunft aus ihren eigenen Mitteln zu nichttrivialen Erkenntnissen vorstoßen könne, das glaubt man wohl heute nicht mehr so recht, oder daß die Natur »vernünftig«, d. h. durch und durch erkennbar sei und so, daß sie die Maßstäbe gebildeter und vornehmer Menschlichkeit niemals widerlegen werde. Auch ist es heute, da das Bürgertum der ganzen Welt sich insgeheim so oft schon geschlagen zu geben scheint, nicht uninteressant, sich klarzumachen, daß ihm einmal der endliche geschichtliche Triumph dessen, was es für vernünftig hielt, eine Gewißheit war. Alle diese Dogmen und Axiome sind Vergangenheit geworden, sie sind nicht mehr so recht nachvollziehbar, und dennoch sind die Spuren jener Zeit in unserer Seele unverwischbar eingegraben. Die Überzeugung von der »Allmacht der Vernunft« nämlich, die in der Aufklärungszeit entstand, hält sich zwar nicht mehr an diese Worte, aber wir stellen die These auf, daß es dieser Glaube und diese Überzeugung sind, die sich in der industriellen Epoche formalisiert haben zu jener grenzenlosen, optimistischen Bereitschaft für Zielsetzungen, Planungen und »Neuorganisationen«. In seiner Funktionsform selbst, in der Art, wie er in Tätigkeit tritt und zu sich kommt, ist der moderne Geist auf Eingriff in die Fundamente, auf Manipulation der Kernbestände und Revision der Ausgangslagen eingestellt, womit er sich auch beschäftige. Hans Freyer hat diesen Zug neuerdings als einen Trend zur »Machbarkeit der Sachen« beschrieben*, und der verallgemeinerte, schon gewohnheitsmäßige Gebrauch des Wortes »Revolution« auf allen Gebieten hat doch eine innere Wahrheit: überall gräbt man die Fundamente auf, um sie umzukonstruieren, in den Künsten, der Lyrik, im naturwissenschaftlichen Weltbild, und erst recht in der Politik. (Fs)
85a Der Gedanke, nicht irgendwelche Mißstände innerhalb der geltenden Ordnung zu reformieren, sondern der einer »durchgreifenden Umformung der Gesellschaftsordnung« hat für die meisten Ohren nichts Befremdendes mehr. Eine Schrift der Soziologin Margaret Mead stellt den Soziologen die Aufgabe, die Pläne für den »Neubau der Welt« zu entwerfen und verkündet den festen Entschluß, »eine neue soziale Ordnung zu erfinden«.* Der Gedanke einer Veränderung oder eines Umbaus der Grundlagen der Gesellschaft tritt also gar nicht, wie in früheren Revolutionen, indirekt und in der Form eines Kampfes um Rechte auf, sondern direkt, im Schema eines »Planes« oder einer zweckbewußten, organisatorischen Maßnahme. Diese Tendenz zur Veränderung der Gesellschaftsordnung und nicht irgendwelcher Mißstände in ihr wurde vor hundert Jahren zuerst sichtbar und damals richtig als metapolitisch erkannt. So im Rapport des Polizeipräfekten der Seine 1847: »Diese Tendenz der anarchistischen Parteien, die eigentlich politischen Fragen zu vernachlässigen (!), um sich in die Ideen der sozialen Neuordnung zu werfen ... ist lebhafter als jemals und verdient seitens der Regierung anhaltende Aufmerksamkeit.«* Mit denselben Worten, daß es sich nicht um »passions politiques proprement dites«, nicht um politische Leidenschaften im eigentlichen Sinne handle, sondern um sehr viel mehr, auch Tocqueville, Rede in der Deputierten-Kammer am 29.1.1848.* In Deutschland machte Lorenz v. Stein 1843 diese Beobachtung.* Man denkt, wie James Burnhamdies ausdrückt, »genau entlang der Richtung, in der ein Manager, ein Ingenieur eine Fabrik organisiert«.* Dieser Planungsoptimismus, als die moderne Form des Vernunft glaubens, hat wie dieser etwas Instinktives, Emotionales und Unkontrolliertes, der Glaube an die innere Wahrheit von Denkmodellen und der an die Beherrschbarkeit auch der größten, kompliziertesten Verhältnisse durch sie, wie sie in ganzen Gesellschaften vorliegen, ist selbst rational nicht mehr begründbar. Er hat allerdings auch, wie jeder echte Glaube, kein Bedürfnis nach einer Begründung. (Fs) (notabene)
86a Ebenso läßt sich nur glauben oder erhoffen, daß die so unendlich vielfältige Wirklichkeit solche Modelle in zwingender Weise bestätigen würde, wenn man sie durchführte, und daß nicht etwas ganz anderes, sehr Unerwartetes herauskäme. Die Vernunft kann nicht irren, sie redet in der Sprache der Wirklichkeit, diese Wirklichkeit kann sie gar nicht desavouieren: das waren schon Grundannahmen der Aufklärungszeit. Von der Entdeckung und Verkündung der autonomen Vernunft sagt Ermatinger, daß man sich die Tragweite dieser Entdeckung nicht groß genug vorstellen kann und daß sie in ihrer geschichtlichen Wirkung geradezu die Bedeutung der Reformation übertrifft.* Die meisten anderen Prämissen der Aufklärung sind inzwischen abgelebt und vergessen, so vor allem die Axiome von der Güte des Menschen, von der inneren Zweckmäßigkeit des Naturverlaufes, von der Gleichheit des moralischen Antriebs in allen Menschen - bestehen blieb das Selbstvertrauen des rationalen Wissens und Denkens in seine Kompetenz, in das Zureichende seiner Fähigkeit. Nur in den Künsten dieses Jahrhunderts wurde auch dieser Glaube abgeschüttelt, und seither hat die Kunst ein gespanntes, polemisches Verhältnis zur übrigen Kultur mit ihrer unbeirrbaren Rationalität, ihren mathematisch-technischen Triumphen, ihren gesellschaftlichen Konstruktionen und Montagen. Ja das Stimmengewirr der Sprachen, in denen die Künste sich vernehmlich machen wollen, wird von der Stimme der Angst beherrscht. (Fs) (notabene)
86b Trotz dieser Kontinuität der rationalistischen Tradition ist das Tempo der Entwicklung erstaunlich, das durch zwei Weltkriege ungemein beschleunigt wurde. Was vor 30 Jahren noch als Utopie erschien, ist heute schon fast fertig. Im Jahre 1922 hat Tönnies noch die »Schaffung (!) eines sozialen Zustandes« als utopisch empfunden, »worin die bisher überwiegend spontan erwachsene Gesellschaft wirklich, nach dem Hegelschen Worte, auf den Kopf, nämlich auf die Vernunft gestellt würde. Das Prinzip wäre: Ausschließung alles gewinnerzielenden Privateigentums, Regelung der Güterherstellung ausschließlich nach den gemeinsamen Bedürfnissen und den Bedürfnissen des Einzelnen, Festsetzung und Normierung der Bedürfnisse.«* Dieses Programm wirkt heute auf viele Europäer nicht mehr als Paradoxie. Auch wenn sie es ablehnen, suchen sie nach Gründen und finden es nicht in sich selbst absurd. So schnell schreitet die allgemeine »Rationalisierung« (Max Weber) fort. (Fs)
87a Die andere, die zweite Grundannahme betrifft nun die Frage, wozu eigentlich die erreichte Macht über die Naturkräfte verwendet werden soll. Ganz selbstverständlich zur Hebung des Lebensstandards. Huizinga hat sehr richtig hervorgehoben, daß sich die höchste Entfaltung des technischen Vermögens zur Beherrschung der Natur mit einer höchsten Steigerung des Verlangens nach irdischem Wohlbefinden und irdischen Gütern verbindet.* Es ist eine sozialpsychologische Frage ersten Ranges, ob der folgende Satz von Finer wahr ist: »In unserer Zeit liegt der Nachdruck aller Hadernden durchaus auf dem Erwerb von Reichtümern. Die meisten möchten reicher sein und weniger und in angenehmeren Berufen arbeiten.«* Für die Wahrheit dieses Satzes sprechen viele Beobachtungen, spricht vor allem aber die staunenswerte Abwesenheit aller asketischen Ideale, die einem historisch interessierten Menschen auffallen muß, von Idealen, die in allen früheren Zeiten, welche doch auch Übersteigerungen luxurierender Bedürfnisse zeigten, dennoch als eine niemals grundsätzlich bestrittene Gegennorm festgehalten worden waren. Jedenfalls hatte der Verzichtende auf die Güter dieser Erde eine moralische Autorität, während er heutzutage auf Verständnislosigkeit stoßen würde. Unter Asketismus soll hier jeder freiwillig durchgeführte Verzicht auf konsumtives Glück in irgendeinem Sinne verstanden werden, gleichgültig, aus welchen Motiven er erfolgt, und gleichgültig, auf welcher Niveaulage, bis zu den höchsten Konsumformen: den entlasteten, unverbindlich ästhetischen Bildungs- und Anregungsinteressen oder bis zu dem Vergnügen, das es gewährt, in den Phrasen des allgemeinen, öffentlichen Jargons mitzureden. Im konkreten Fall bewirkt die Askese eine Stärkung des inneraffektiven Zusammenhangs, ein Mehr an Integration und Fassung der Person, verbunden mit einer Verschärfung der sozialen Antriebe, einer Steigerung der geistigen Wachheit - also ein Sichentäußern gerade durch Sichkonzentrieren. In primitiven Verhältnissen übernimmt die Härte der äußeren Umstände die Hemmungs- und Zuchtleistung, die der Asketismus spontan und individuell aufwendet; das ist der Grund, weshalb er in ganz primitiven Gesellschaften selten zu sein scheint. Auf der anderen Seite verhindert die neuzeitliche, auch durch die ungeheuerlichsten Erfahrungen unwiderlegbare Verharmlosung der Auffassung des Menschen uns, einen Blick in die letzten und gefährlichsten Zusammenhänge des menschlichen Herzens zu tun, in die von Wohlleben und Grausamkeit. Diese waren Jung-Stilling nicht fremd, von dem Gervinus erzählt, er habe schreckliche Gemälde der Zukunft entworfen, aus der traurigen Überzeugung geschöpft, daß die Christen ohne Religion wegen des hohen Grades ihres Luxus zu allem Greulichen am geschicktesten seien - bestürzende Worte.* Auch dunkle Worte, weil nicht trennscharf angegeben ist, wer gemeint wird, aber eindrucksvolle, denn diesmal, im zwanzigsten Jahrhundert, waren es die Asiaten nicht, von denen die Greuel ausgingen. (Fs) (notabene)
88a So wie nun der Aufklärungsglaube an die Vernunft sich formalisiert hat zu einer allgemeinen Bereitschaft für Neuorganisationen und Pläne, so liegt in der Rechtfertigung des irdischen Glückes, der anderen Entdeckung der Aufklärung, der Keim zu dem zweiten Bedürfnis der industriellen Gesellschaft - dem Konsumbedürfnis. Das Recht auf Wohlleben ist eine ebenso unbestrittene Grundannahme wie die Neuorganisation der Gesellschaft, die ja schließlich das Mittel für jenen Zweck sein soll. Die Massenströmungen des Getriebenwerdens in der Richtung dieser beiden Ideale ist eine direkte Folge der Aufklärungs-Tradition und ihrer Umformung durch die vom Industrialismus vollständig veränderten Lebensbedingungen und geistigen Gewißheiten; sie drückt so etwas wie eine Neuanpassung der instinktiven Kernschichten an eben diese Bedingungen aus, denn die Leistung des Industriesystems bestand und besteht eben wirklich darin, den Lebensstandard der Massen zu heben, und ebenso deutlich in einer »Umorganisation« der Gegeninstanzen, der konservativ-traditionalistischen Schichten und ihrer geistigen und ökonomischen Reserven und Rückhalte. Fast alle industriellen Produkte, vom elektrischen Licht bis zum Seidenstrumpf und zum Radio waren einmal teuere Luxusgüter und sind dann, in Massenproduktion verbilligt, zu Gegenständen von Massenbedürfnissen geworden. Es ist kein Zweifel, daß unter ihren wesenseigenen, ungestörten Bedingungen die Industrie nicht von einer traditionellen, stereotypen Bedarfslage her produziert, sondern daß sie umgekehrt die Bedürfnisse mitproduziert, die Bedürfnisse für Produkte, die sie ganz unabhängig von jeder Nachfrage (die erst dem neugezüchteten Bedürfnis folgt) aus sich selbst heraus entwickelt. (Fs) (notabene)
89a Der Prozeß ist irreversibel, die Versorgung steigender Bevölkerungen bei steigenden Ansprüchen mit zunehmenden Gütermengen muß gewollt werden, aber die Konstatierung des Vorgangs und die Abrechnung auf der geistigen und moralischen Kostenseite sollten erfolgen, solange das noch möglich ist. Und da ist zu sagen: das System steht nicht nur auf der Voraussetzung des Rechtes auf Wohlleben, es tendiert dazu, die Gegenposition, nämlich das Recht auf den Verzicht auf Wohlleben, unmöglich zu machen, und zwar indem es die Konsumbedürfnisse selbst produziert und automatisiert. Vielleicht liegt hier überhaupt die Wurzel aller neuverbreiteten Unfreiheiten. Maitre et possesseur de la nature hieß schon im Grunde: daß es keine massiven, nach aller Erfahrung unüberwindlichen äußeren Widerstände der »Natur« gibt, die irgendwie eine letzte Verzichtbereitschaft aufnötigen könnten. Daß man dann auch keine unüberwindbaren Widerstände der Sozialordnung zulassen möchte, die zu Verzichten nötigten, ist selbstverständlich: in dem maitre et possesseur de la nature ist das maitre et possesseur de la societe schon enthalten. (Fs)
89b So sehen wir, wie die erwähnten beiden Grundannahmen oder Ideale die massenhaft umlaufenden und völlig gleichartigen Formeln sind, welche die Maschine aus den ererbten Ideen der Allmacht der Vernunft und der Erreichbarkeit irdischen Glücks herausgestanzt hat. Diese Leitideen der Aufklärung waren im höchsten Grade komplex und entwickelbar, prall von Erfahrungen, Leidenschaften, Geist und Hoffnungen. Sie konnten in die allerverschiedensten praktischen, sozialen, ästhetischen und logischen Verhältnisse befruchtend eingehen und zwischen ihnen Kontakte mit überraschenden, produktiven Folgen herstellen. Wenn je seit den Tagen der Griechen über einer ganzen Epoche der Hauch des Genialen lag, so war es damals - so fröhlich und selbstsicher war sie, so unerschöpflich erfindungsreich und beflügelt. Wieder einmal kreuzten sich auf dem fruchtbaren Boden Europas alte und neue Keime zu einer verwirrenden Fülle phantasievoller Vegetation. »Es bedarf«, sagte Sorel, »einer sehr vorgeschrittenen, sehr eigentümlichen und aus sehr verschiedenen Elementen gemischten Kultur, damit der Mensch zu Kunst, Philosophie und Religion gelangen kann, d. h. zu dem, was Freiheit bedeutet.«* (Fs)
90a Daraus ist nun das geworden, was Bergson beschreibt: »Das Rennen nach dem Wohlleben ist in immer schnellerem Tempo vor sich gegangen, auf einer Rennbahn, zu der sich immer dichtere Massen hindrängten. Heute ist es die wilde Jagd.«* Und in dieses Bild gehört auch das, was Max Scheler die »grenzenlose Pleonexie in allen tonangebenden Gruppen«* nannte, und die sich natürlich längst nicht mehr auf diese beschränkt. Das Wort Pleonexie bedeutet gleichzeitig Begehrlichkeit, Anmaßung und Herrschsucht. Dieses Wort kann sozialpsychologisch heutzutage schwer entbehrt werden. Man kann es zu einer Definition der Masse benutzen, zumal die schon standardisierte Bedeutung dieses Begriffs, die mit Vorstellungen von der »Primitivperson« und ähnlichem arbeitet, schon längst unbefriedigend geworden ist. Gleichgültig, welche Bildung oder soziale Stellung der einzelne hat: zeigt er Pleonexie, so gehört er zur Masse, während umgekehrt jeder zur Elite zu zählen ist, der Selbstzucht, Selbstkontrolle, Distanz zu sich und irgendeine Vorstellung hat, wie man über sich hinauswächst. (Fs)
90b Toynbee hat übrigens die »Enthaltsamkeit« und Selbstbeherrschung zu den typischen Symptomen der niedergehenden Kultur gezählt, ein Cato gehört in die Umwelt der Bürgerkriege, des Cäsarismus und der politischen Gangster, wie Clodius. Es mag sein, daß ethische Forderungen ihren historischen Ort haben, aber sie betreten ihn, wenn ihre Zeit gekommen ist, mit unbedingter Entschiedenheit. Zu dem, was wir die »staunenswerte Abwesenheit aller asketischen Ideale« nannten, hat Toynbee sich sibyllinisch geäußert: »Wir suchen vorerst vergeblich nach Zeichen der Enthaltsamkeit und Selbstbeherrschung: daraus könnten wir wohl schamloserweise die Folgerung ziehen, daß der Zerfall unserer Kultur, sollte sie tatsächlich schon zum Stillstand gekommen sein, noch nicht sehr weit fortgeschritten sein kann.«*" (Fs; E08; 16.12.2008)
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