Autor: Gehlen, Arnold Buch: Die Seele im technischen Zeitalter Titel: Die Seele im technischen Zeitalter Stichwort: Agrarmoral - Industriemoral; Rechtsordnung; Tocqueville (Vision); Kleinstverbände und Intimgruppen
Kurzinhalt: »Die Rechtsordnung ist das entscheidende Politikum seit dem Übergang der Menschen zur bäuerlichen Lebensweise« ... »Ich sehe eine unübersehbare Menge ähnlicher und gleicher Menschen, die sich rastlos um sich selber drehen, ...
Textausschnitt: 80a Umgekehrt gibt es eine Reihe weittragender Erfahrungen, die in dieser fast die ganze Geschichte umfassenden Epoche gemacht und festgehalten wurden. Weil die Tatsache des Kapitals, des sich selbst anreichernden und nach Verwendung drängenden Eigentums in der Agrarwirtschaft erscheint und entdeckt wird - schon sumerisch bedeutet »mas« sowohl Zins als auch Tierjunges* -, weil dort die Kapitalbildung ein sozusagen ontologischer Vorgang ist, eine Realität innerhalb der ökonomisch ausgezeichneten und ethisch legitimierten Substanz des Lebens in der Welt, deshalb entsteht niemals ein allgemeiner Zweifel am Recht auf Eigentum, höchstens ein besonderer an einzelnen Eigentumsrechten. Die Heiligkeit des privaten Eigentums gehört zu den Merkmalen der Agrargesellschaften, denn der Umkreis der Dinge, in dem jemand selbst handelt und verfügt und der den Bereich seiner auch moralischen Verantwortung für das Gedeihen des Lebendigen umschreibt, er muß ihm vorbehalten bleiben. Diese undiskutable Bejahung und Bewertung des Eigentums, ferner der Wille zur Stabilität, der in Jahreszeiten, Jahren und Generationen denkt, sowie endlich die Bereitwilligkeit zur Unterordnung unter etwas Allgemeines und Unbeeinflußbares (die in der Jägerkultur noch nicht, in der Industriekultur nicht mehr herausgefordert wird) - alle diese Grundkategorien kristallisieren zu dem Inbegriff traditioneller Kultur, zur Rechtsordnung. »Die Rechtsordnung ist das entscheidende Politikum seit dem Übergang der Menschen zur bäuerlichen Lebensweise«, sagt Heichelheim.* (Fs)
80b Die Maschinenarbeit an toten Stoffen, die alle paar Monate wechselnden Moden, Aktualitäten, Konjunkturen und Schlußtermine und die Suggestion des Glaubens, man könne durch Änderung einiger Prämissen der Gesellschaft das Leiden der Welt beheben, diese Grundvoraussetzungen der nachagrarischen Kulturen müssen Rechtsordnung und Eigentum aufs tiefste beeinflussen und ihren inneren Zusammenhang auflösen. »Die britische Oberschicht wurde auf eleganteste Weise fast tödlich zur Ader gelassen, und das Opfer arbeitete im weiten Ausmaß bewußt daran mit«* - das ist ein Modellfall eines entscheidenden Politikums im fortgeschrittenen industriellen Zeitalter. Derartige Neuordnungen bedienen sich des seit Jahrhunderten eingeübten Respekts vor der rechtlichen Satzung noch mit Erfolg, aber wer will sagen, wie lange die eingeübte Gruppendisziplin noch vorhält, die selbst das Opfer an seiner Hinrichtung mitarbeiten läßt, wenn die von Tocqueville so genial vorausgesehene Situation sich verallgemeinert: »Ich sehe eine unübersehbare Menge ähnlicher und gleicher Menschen, die sich rastlos um sich selber drehen, um sich kleine und gewöhnliche Freuden zu verschaffen, die ihr Herz ausfüllen. Jeder von ihnen ist, ganz auf sich zurückgezogen, dem Schicksal aller anderen gegenüber wie unbeteiligt, seine Kinder und seine besonderen Freunde sind für ihn die ganze Menschheit. Was seine übrigen Mitbürger angeht, so ist er zwar bei ihnen, aber er sieht sie nicht.«* (Fs) (notabene)
81a Was hat Tocqueville hier beschrieben? Sah er die überfüllten Millionenstädte in den Wohlfahrtsstaaten reicher Industriegesellschaften vor sich, meinte er die Zustände, die eintreten würden, wenn alles Politische von den riesigen Apparaturen der Daseinsverwaltung aufgesogen sein würde? Meinte er mit dem fürchterlichen Wort von der »geregelten, milden und friedlichen Knechtschaft«, die sich »sogar im Schatten der Volkssouveränität niederlassen« könne*, vielleicht gar nichts Politisches, sondern die Konsumdiktatur, die sich in das Gefühl der Freiheit umsetzt? (Fs)
81b Will man nicht unlösbare moralische Probleme aufwerfen, will man die Gefahr des Absprechens vermeiden, der vielleicht selbst ein so großer Mann unterlag, dann nimmt man wohl besser solche Merkmale als Symptome künftiger Entwicklung, die möglich sind. Wenn nicht die Zeichen täuschen, fangen die Völker an, sich nach Stabilität zu sehnen, auch wenn diese Entscheidung sich zunächst in die Liebe zu kleinen Ordnungen und bescheidenen Genugtuungen kleiden würde. Die Intaktheit der Rechtsordnung und überhaupt die Integrität von rechtlich sanktionierten Institutionen ist ausschlaggebend für die individuelle Moral des Einzelnen und für seine seelische Gesundheit. Denn zunächst knüpft jede rechtliche und damit irgendwie auf Gegenseitigkeit durchgeordnete Institution die Verpflichtungen an Vorteile und Vergütungen. Dienst und Hingabe an andere werden durch irgendeinen darin mitgedeckten Nutzen erst dauerfähig und als solche erst zumutbar. Damit ist aber schon das Schema einer Institution wie der Ehe oder jeder anderen, die Gegenleistungen einrechnet, entworfen. Das in der einzelnen Seele irrationale Verhältnis von Egoismus und Altruismus wird, in die Rechtsform einer Institution veräußerlicht, rational und widerspruchslos: oder die idealen und die egoistischen Interessen des Menschen harmonieren niemals im Einzelnen, sie harmonieren in ihm nur dann, wenn sie mit denen anderer in der Außenwelt zusammenstimmen. Wer allein, aus bloßem subjektivem Selbstreiz, einer idealen Anwandlung folgt, ist auf eigene Faust ein Narr. Denn rational verhält sich der Einzelne, wenn die Institutionen um ihn herum in Umbau oder Abbau begriffen sind und er sozusagen im Nichts sich abstützen müßte, nur egozentrisch. (Fs)
82a Daher haben die Institutionen von eingelebter Rechtsgeltung eine ungemeine Bedeutung für die innere Verfassung des Einzelnen: sie entlasten ihn von der fallweisen mühsamen Erfindung anständigen Verhaltens, weil sie es schon vorgeformt und vorentschieden darstellen, und sie prämiieren dieses anständige Verhalten mit prestigemäßigen oder ökonomischen Chancen oder mit derjenigen Genugtuung, die in dem Bewußtsein liegt, das Rechte getan zu haben - zum mindesten privilegieren sie es nicht negativ. Die Moral ist dann weder undankbar, eine Sache, die sich nicht auszahlt, die einen gegen die Smarten in Nachteil bringt, noch mühsam und Sache zusammenhangloser Einzelentschlüsse, denn sie ist eingelebte Gewohnheit und wird nicht weniger von den Idealen als von den Interessen der anderen mitgetragen. (Fs)
82b Das oben gegebene Zitat Tocquevilles hat noch ein besonderes Interesse. Es scheint eine Vorahnung jener Kleinstverbände und Intimgruppen auszusprechen, wie sie quer durch die Massengesellschaft hindurch entstehen und die steigende Aufmerksamkeit der Soziologen auf sich ziehen.* »Das Zeitalter der Vermassung ist das Zeitalter der kleinen Sondergruppierungen, der Vertrauensbeziehungen, für die man sich einsetzt und wirklich etwas tut, der Teams, die Gleichgesonnene kooptieren.«* Hier wird die Vereinzelung der Menschen abgefangen, und die formlosen, meist nichtöffentlichen Einrichtungen gewinnen anscheinend eine zunehmende Bedeutung, eine ganze Richtung namentlich der amerikanischen Sozialpsychologie stellt sich auf sie ein. Die Unmenschlichkeit der Menschen, wie sie Tocqueville beschreibt, ist im Kreise der Kinder und Freunde verschwunden, alle diese kleinen Bindungen zusammen machen so etwas wie den Zement des Gesamtgebäudes der Gesellschaft aus. Was so laut den Vordergrund einnimmt: die großen Zweckorganisationen und die hineingeschütteten Einzelnen, das ist keineswegs die ganze Wahrheit. (Fs) (notabene)
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