Autor: Gehlen, Arnold Buch: Die Seele im technischen Zeitalter Titel: Die Seele im technischen Zeitalter Stichwort: Agrarmoral - Industriemoral; Geschichte: 2 Zäsuren; Maritain (Descartes): anthropozentrischer Optimismus des Denkens; Auflehnung: Kreatur zu sein Kurzinhalt: Es gibt wahrscheinlich doch nur zwei kulturgeschichtlich wirklich entscheidende Zäsuren: ... . Vor allem fielen in der Bewirtschaftung des Lebendigen soziale, ethische und ökonomische Kategorien nicht auseinander.
Textausschnitt: 1. Agrarmoral und Industriemoral
77a Die Untersuchung muß jetzt auf die moralischen Aspekte unserer Problematik näher eingehen und gewisse sehr tiefliegende Überzeugungen erwähnen, die zwar Resultate der geschichtlichen Entwickelung sind, aber in einem solchen Grade einverleibt wurden, daß sie sich bereits dem Bemerktwerden entziehen. Dabei kann hier nur vorausgesetzt und nicht näher erörtert werden, daß es außer den sozialen Tugenden, die zu allen Zeiten ungefähr für dieselben gehalten wurden, noch andere Triebfedern des Verhaltens gibt, die einer moralischen Zurechnung unterliegen und die unseren Sollenserlebnissen zugrunde liegen. Von diesen letzteren nehmen jetzt diejenigen unser Interesse in Anspruch, die zwar sicher kulturrelativ sind, aber wie Grundaxiome sowohl als Entscheidungen als auch als Überzeugungen angesehen werden können, als kommandierende Einstellungen. Eigentlich handelt es sich gar nicht mehr um Überzeugungen bewußter Artikuliertheit, sondern um quasiinstinktive Neuorientierungen, um Massenströmungen des Getriebenwerdens, die sich im einzelnen als harter, bewußtloser Eigenwille manifestieren und die aus den radikal veränderten Lebensbedingungen ebenso folgen wie aus einer Bewußtseinsstruktur, die von der Wissenschaft und Technik, der Industrienatur und der Stadtatmosphäre unwiderstehlich umgeprägt worden ist - so unwiderstehlich, daß erst recht der, welcher diese Wahrheit bestreitet, sich durch die von ihm gebrauchte Sprache widerlegen lassen muß. (Fs)
78a Eine dieser Determinanten ist bereits von Descartes in der berühmten Formel »maitres et possesseurs de la nature« ausgesprochen worden.* Er hat den in der neuzeitlichen Naturwissenschaft enthaltenen Imperialismus der Naturbeherrschung vorentworfen und gewollt. Nach diesem Programm hat die Wissenschaft die gefesselt gewesenen Riesenkräfte der anorganischen Natur verhört, die Technik hat sie zur Zwangsarbeit verurteilt. Descartes hat das in reinster Form dargestellt, was Maritain den »anthropozentrischen Optimismus des Denkens« genannt hat*, und hat ihn mit dem maßlosen Hochmut verbunden, der aus ein paar Prinzipien ganze Welten konstruiert - einem Hochmut, den er noch privat aus seiner dreifachen Eigenschaft als Edelmann, als Genie und als Einsamer bezog, der sich aber als ebenso popularisierbar erwies wie seine ganze Philosophie und der sich nacheinander erfolgreich an alle Provinzen der Wirklichkeit heranmachte, sie umdisponierend, umstürzend, neuarrangierend und neuverteilend. (Fs)
78b Die damit im Inneren der Menschen sich vollziehenden Veränderungen können nicht überschätzt werden. Es gibt wahrscheinlich doch nur zwei kulturgeschichtlich wirklich entscheidende Zäsuren: den prähistorischen Übergang von der Jägerkultur zur Seßhaftigkeit und den modernen zum Industrialismus. In beiden Fällen war die geistige und moralische Revolution offenbar total. Der Übergang aus dem Dasein des Großwildjägers zu Viehzucht und Ackerbau muß viele Jahrhunderte gedauert und die außerordentlichsten Schwierigkeiten der Umstellung mit sich gebracht haben. Denn es handelte sich keineswegs bloß um eine Transformation des Wirtschaftsgebarens, sondern um eine so vollständige Umstrukturierung aller Einstellungen, daß nichts unergriffen blieb: damals müssen die Götter aus Verwandlungsdämonen und Tiergestalten der menschlichen Form angenähert und ortsfest geworden sein, eine Mythologie hat die altsteinzeitliche Jägerkultur wohl kaum gekannt, und sie dürfte auch erst neolithischen Alters sein; die Familien- und Gruppenordnungen sowie die Blutszurechnungen erhielten mit der Seßhaftigkeit vorher undenkbare Möglichkeiten, volkreiche Populationen, Reichtumsdifferenzierungen, Herrschaftsgewalten bisher unvorstellbarer Art entstanden und entbanden neuartige Risiken, Verpflichtungen, Freiheiten, Rechte und Zwänge. Von den endlosen Krisen des Überganges, die wir mit voller Sicherheit erschließen können, sind keine Spuren erhalten, und die damals neueroberten Grundlagen der menschlichen Kultur schienen noch unseren Urgroßvätern von ewiger Geltung zu sein. Denn in der Tat, das ökonomische Fundament der Menschheit von der jüngeren Steinzeit bis zum Beginn der Moderne war die Landwirtschaft, und an dieser Tatsache interessiert uns jetzt der moralische Reflex: Die Hege und Kultur der Tiere und Pflanzen besteht nämlich in einem wechselseitigen Dienst. So wie sie für den Menschen da sind, so ist er für sie da. Die objektiven, stationären und übergreifenden Gefüge der Ernährung des Menschen und der Fortpflanzung der Tiere und Pflanzen miteinander zu kombinieren, den Zweck der Natur im Dasein und Gedeihen des Belebten zum eigenen Zweck zu machen - das waren großartige Entwicklungen, von denen wir glauben, daß sie nicht durch Versuch und Irrtum, Experiment und Nachdenken zustande kamen, sondern daß sie Nebenerfolge, Sekundärergebnisse eines kultischen Verhaltens gewesen sind, eines hocharchaischen, aus der Jägerkultur weitergetragenen Tierkultes.* (Fs)
79a Mit der Agrarkultur wird die Abhängigkeit der rasch wachsenden Gesellschaften vom Atmosphärischen, Klimatischen und von dem Vegetativen, dessen Gesetze man nicht beherrscht, chronisch und unaufhebbar, und sie bahnt sich den Weg bis in die Mitte des Lebensbewußtseins. Die große landsässige Mehrheit der Bevölkerungen lebte jedenfalls unter Bedingungen, die Dienst- und Pflichtbegriffe in der Arbeit zu entwickeln nötigten und unter denen, wenn große Überschwemmungen und Dürren ganze Völker bedrohten, die alten Tierkulte keine angemessenen Begriffe des Göttlichen mehr boten. Vor allem fielen in der Bewirtschaftung des Lebendigen soziale, ethische und ökonomische Kategorien nicht auseinander. Auch reagiert der Mensch auf die drastische Abhängigkeit von unberechenbaren Naturereignissen am wirksamsten mit einer Einstellung, die grundsätzliche Verzichtsbereitschaft nicht ausschließt, und eine letzte Auflehnung gegen die Vorstellung, Kreatur zu sein, wird ihm fernliegen - zum mindesten aber wird ihm der Aberglaube an die Allmacht des Menschen fehlen, der die Großstädte beherrscht. Nur dort gilt der Schluß: weil dies und das schlecht steht oder mißglückt, weil man aber doch alles machen kann, »wenn man nur will«, so müssen Bösewichter vorhanden sein, die sabotieren und die ermittelt werden müßten, wenn man sie nicht sowieso schon kennte. (Fs) (notabene)
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