Autor: Gehlen, Arnold Buch: Die Seele im technischen Zeitalter Titel: Die Seele im technischen Zeitalter Stichwort: Erfahrungsverlust; imaginäre Welt
Kurzinhalt: Schon Sorel hatte bemerkt, daß die Entfremdung vom Alltag die Fähigkeit aufs höchste ausbildet, in einer imaginären Welt zu leben. Textausschnitt: 2. Erfahrungsverlust
47b Einer der wichtigsten Befunde läßt sich auch noch als Anpassung an überdimensionale, geistig und moralisch nicht mehr recht zugängliche Ereignisse beschreiben, nämlich der Verlust des Realitätssinnes. Damit wird, nach einem psychologischen Gesetz, die Begehrlichkeit enthemmt, so daß der Quietismus des Konsumierenwollens auch hier eine seiner Wurzeln hat. Man weiß nicht, ob dieser Quietismus auf die Dauer harmloser ist als jene andere Art von Weltfremdheit, die ins Imaginäre und Tatbereite hineinstrebt, ins Programmatische. Es ist ein trauriges, die verkehrte Welt gut bezeichnendes Merkmal, daß oft dem Phantastischen und Utopischen eine moralische Würde nicht bestritten werden kann, weil es doch die unerfüllten und unverzichtbaren idealen Bedürfnisse anspricht; während umgekehrt diejenigen, die rational handeln, immer wieder von den Verwirrungen desavouiert werden, die sie anrichten. (Fs)
48a Schon Sorel hatte bemerkt, daß die Entfremdung vom Alltag die Fähigkeit aufs höchste ausbildet, in einer imaginären Welt zu leben.* Wir wollen unter Alltag die Beanspruchung durch vielfältig wechselnde Situationen verstehen, die zum größten Teil bekannt und voraussehbar, doch aber mit unvorhersehbaren und überraschenden Situationen durchsetzt sind. Dann aber haben sowohl die magisch-ritualistischen Kulturen der Primitiven als auch die industrielle diese gemeinsame Eigenschaft, den Menschen vom Alltag abzuschalten. Zwischen dem frühen Primitivismus, der den zähen Bewuchs phantastischer Deutungen und Rituale über die Erfahrungswelt spinnt, und dem späten, zu dem man durch einen übermäßig engen und monotonen Erfahrungssektor gezwungen wird, besteht wenig Unterschied unter dem Gesichtspunkt der Weltfremdheit. Im einen Falle umstellen Mythen den Horizont, im anderen Zeitungen. Nun gehört aber »Erfahrung« durchaus zu den Dingen, bei denen nach einer eleganten Hegelschen Formulierung die Quantität in die Qualität umschlägt. Denn in dem vielseitigen Wechsel unmittelbarer und anschaulicher Kontakterfahrungen arbeiten sich bekanntlich die bewährten Gewißheiten heraus - aber auch umgekehrt: die sonst bloß »vorschwebenden« Wahrheiten werden nur von einer gehörigen Breite der Wirklichkeit voll absorbiert und im Konkreten abgespiegelt. Die ereignisverdünnten Räume, in denen der industrielle oder administrative oder gelehrte Spezialist arbeitet, mit nur vager und entfernter Kontrolle der Auswirkungen seiner Tätigkeit, die sich meist überhaupt der Vorstellbarkeit entziehen - sie sind dagegen die natürlichen Regionen exzessiver Phantasmen, in denen sich die unterernährten sozialen Instinkte ergehen - es sei denn, man zöge den Konsumquietismus vor. Hat jemand das Gefühl, nur ein austauschbares und überhaupt etwas abgeschliffenes Rad in der großen Maschine zu sein; hat er die übrigens berechtigte Überzeugung, daß sie auch ohne ihn läuft, und bekommt er die Folgen seines Handelns gar nicht oder nur chiffriert als Zahlen und Kurven oder bloß in Gestalt der Lohnabrechnung zu Gesicht, so muß der Sinn für Verantwortlichkeit sich in demselben Verhältnis verengen, wie das Gefühl der Hilflosigkeit steigt. Für den, der so im Nerv seiner Person amputiert ist, gibt es eigentlich nur noch die genannten Auswege. (Fs)
49a Unter dem Gesichtspunkt des Nationalökonomen erscheinen die hier beschriebenen Phänomene, insbesondere der Konsumpassivismus, ebenfalls wieder. Wilhelm Röpke sagt, »daß ein Übermaß an Arbeitsteilung leicht zu einer gewissen Verkümmerung der vitalen Kraft des Menschen führt«. »Von Tag zu Tag verrichtet der moderne Mensch weniger selbst. Die Konservendosen ersetzen die Gerichte, die man zu Hause machte, Konfektionskleider ersetzen die Schneiderarbeit, die die Hausfrau betrieb, Grammophon und Radio die Hausmusik, das Auto und die Fußballwettspiele die eigentliche aktive sportliche Tätigkeit. Schließlich läßt man sich auch seine eigenen Gedanken und Meinungen durch die Denkmaschine der Presse, des Radios und des Kinos liefern. Wenn man gewissen Nachrichten Glauben schenken darf, nach denen in einigen Städten der Vereinigten Staaten die Nachfrage nach illegitimen Kindern zwecks Adoption das Angebot übersteigt, gäbe es heute schon Leute, die sich sogar ihre Kinder durch andere machen lassen.«* (Fs)
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50a Unmittelbar damit zusammenhängend ist jener merkwürdige, von Ortega y Gasset analysierte Zug, daß nämlich »heute der Durchschnittsmensch die deutlichsten Vorstellungen von allem hat, was in der Welt geschieht oder zu geschehen hat. Es ist nicht mehr an der Zeit zu hören, sondern zu urteilen, zu befinden, zu entscheiden. Im öffentlichen Leben gibt es keine Frage, in die er sich, taub und blind wie er ist, nicht einmischte, seine Ansichten durchsetzend«.* Diese Beobachtung scheint uns übrigens in erster Linie für diejenigen Gebildeten zuzutreffen, die sich gerade dadurch, daß sie so reagieren, selbst als Masse qualifizieren. Jedenfalls entfaltet sich das »Gesinnungshafte«, Assoziative und Getriebene des Denkens gern gegenüber den großen, dunklen und öffentlichen Fragen, wo oft derselbe Mensch im Besitz einer Zauberformel ist, die alles erklärt und löst, der nicht sicher sein kann, aus eigener Bemühung morgen sein tägliches Brot zu haben.* (Fs)
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