Autor: Gehlen, Arnold Buch: Die Seele im technischen Zeitalter Titel: Die Seele im technischen Zeitalter Stichwort: Geist der Technik - triebhafte, unbewußte Logik; Merkmale: Entsinnlichung, Intellektualisierung; Lyrik, Malerei (Mallarme, Picasso)
Kurzinhalt: Geheime und seltene Antriebe in der Menschheitsgeschichte ... konnten doch nicht eher sich so laut und offen und ungehemmt und allseitig durchsetzen, wie sie es jetzt tun, bevor ihnen die technische Kultur nicht den Außenhalt gegeben hatte, ... Textausschnitt: 1. Die Entsinnlichung
23a Jede Beschäftigung mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen setzt eine Klärung unserer Vorstellungen über die Technik voraus, die in ihrer Verschwisterung mit der industriellen Produktionsform die Voraussetzung des Bestandes der Menschheit ist. Diese »Maschinenkultur« entstand auf dem Erdball da, wo die analytischen Naturwissenschaften entwickelt wurden, wo man die ersten Kraft- und Arbeitsmaschinen fand und wo auch der Geist des rationalen Kapitalismus erwuchs, der diese Keime entwickelte. Aber die rasante Ausbreitung dieser Kultur von ihrem westeuropäisch-amerikanischen Entstehungszentrum aus über den Erdball hinweg wäre unverständlich, wenn bloß rationale Motive sie erklären sollten. Eben deshalb haben wir vorhin die Tiefenverwurzelung der Technik, die unbewußte Triebhaftigkeit dargestellt, die hinter der technischen Entwicklung arbeitet: der Mensch muß danach streben, seine Macht über die Natur zu erweitern, denn dies ist sein Lebensgesetz, und notfalls genügt ihm - und hat ihm über Jahrzehntausende genügt - eine imaginäre Macht, die Magie, solange er den Weg zur realen nicht fand. (Fs)
23b Aber die Erklärung der Technik aus einem wesenseigenen Machtstreben des Menschen, so populär und auch richtig sie ist, reicht doch nicht aus. Mit derselben blinden, seinen Geist vorwärtstreibenden Energie sucht der Mensch sich selbst zu objektivieren: er findet in der Außenwelt die Modelle und Bilder seines eigenen, rätselhaften Wesens, und mit derselben Fähigkeit der »Selbstverfremdung« schlägt er sein eigenes Handeln der Außenwelt zu, läßt es von ihr übernehmen und weitertragen. Daher die merkwürdige Bezauberung durch den Automatismus, die geordnete, zuerst am Himmel wahrgenommene Kreisbewegung, durch die Monotonie der Wiederkehr des Gleichen: das erweckt eine Resonanz bis in den eigenen Pulsschlag hinein, und umgekehrt fühlt sich das eigene Handeln in den Kraftlinien des Weltumschwungs und der Naturrhythmen mitgeführt, die Stabilisierungsfläche der Welt verläuft in der Ebene des menschlichen Handlungskreises. (Fs)
24a Bemerkt man, wie sehr weitgehend das primitive Denken von den Gesetzen der »übernatürlichen Technik« besetzt war, so wird niemand erwarten, daß das Seelenleben des Menschen von dem Übergang zur Industriekultur unergriffen geblieben ist. Wir haben es mit einer Umwälzung zu tun, die man an Tiefgang nur mit der »neolithischen Revolution« vergleichen kann - mit jener prähistorischen Epoche, da die Menschheit das Jägerdasein verließ und mit Ackerbau und Viehzucht die Seßhaftigkeit wählte und mit ihr in der Folge die dichtbevölkerte Großsiedlung, die Reichtumsdifferenzierung, die Herrschaft, die Arbeitsteilung und nicht zuletzt die selbst seßhaft werden den Götter mit ihren Tempeln und Kulturen. Ahnlich durchgreifend wird die Verwandlung der Welt durch die Industriekultur sein, wenn die Menschheit eine stählerne und drahtlose Hülle um den Erdball spinnt - wir stehen erst am Anfang dieses Vorganges und in seinen ersten beiden Jahrhunderten. (Fs)
24b Immerhin kann man einige deutliche Charaktereigenschaften der Kultur, die auf uns zukommt oder in deren Übergangszone wir schon leben, an den gegenwärtigen Verhältnissen bereits ablesen. Dabei fällt zuerst die durchgreifende Intellektualisierung in den eigentlich geistigen Bereichen der Künste und Wissenschaften auf, mithin der Abbau an Anschaulichkeit, Unmittelbarkeit und unproblematischer Zugänglichkeit. Die künstlerische und wissenschaftliche »Spitzenproduktion« in den Feldern, wo sozusagen die Frontereignisse sich abspielen, wird immer abstrakter und unsinnlicher. Weiteren Kreisen wurde das seit der allgemeinen Relativitätstheorie* klar. Es entstand damals, um 1916, eine eigene Popularisierungsliteratur mit der Bemühung, grundsätzlich der anschaulichen Vorstellbarkeit sich entziehende mathematische Konzeptionen dennoch irgendwie der Allgemeinverständlichkeit zu nähern. Man trennte sich noch ungern von der Vorstellung, daß die Welt, in der alle Leute leben, auch allen Leuten begreiflich sein müsse - aber inzwischen haben uns nicht nur die Physiker, sondern auch die Politiker und Techniker in diesem Punkte zur Resignation erzogen. Um aber auf die Physik zurückzukommen, so hat man uns inzwischen belehrt, daß wir es mit dem gekörnten Raum, dem absolut kleinsten Zeitintervall und mit Elementarteilchen zu tun haben, die ihre Identität wechseln - kurz, das sind bloß noch den Fachleuten zugängliche Vorstellungen, so daß schließlich auch die populäre Literatur versiegt - man läßt die Kenner unter sich. (Fs)
25a Um ein anderes Beispiel zu bringen, so zeigt sich in der Psychologie, [...]
Und wo eine Wissenschaft, wie die Geschichtsschreibung, diesen Schritt nicht tun kann, erscheint sie gerade wegen der intakt gebliebenen Anschaulichkeit leicht als unrealistisch und flächenhaft. Zum mindesten verlangen wir heute von einem Historiker, daß er die Vieldimensionalität seines Gegenstandes zur Geltung kommen läßt: neben den politischen fordern die soziologischen, wirtschaftlichen, psychologischen Faktoren Berücksichtigung, und wo das versucht wird, muß der Historiker seinen Gegenstand sozusagen innerhalb wechselnder Bezugssysteme interpretieren.* Die eindimensionalen oder allenfalls »dialektischen« Ableitungen des geschichtlichen Reichtums im Sinne eines Hegel oder Spengler empfindet man heute schon als überlebt, sie haben etwas Unmittelbares und Poetisches. (Fs)
26a Poetisch allerdings nicht im Sinne der neuen Poesie. Diese hat ihrerseits längst den Weg zur Intellektualisierung und Entsinnlichung beschritten, sie verwirft mit Gottfried Benn ein »Gedicht mit Trennung und Gegenüberstellung von angedichtetem Gegenstand und dichtendem Ich«.* Man kann es nicht vermeiden, bei diesem Zitat an gewisse aufregende Theorien der Physik oder der mehrwertigen Logik zu denken, nach denen die Bezugnahme auf das Subjekt selber zum Inhalt eines Satzes gehören kann. Das naive Objektivieren von Wahrnehmungen wird für den Physiker ebenso fragwürdig, wie für den Poeten das naive Objektivieren von Stimmungen. Man hält es mit Mallarme, der bereits sagte: ein Gedicht entsteht nicht aus Gefühlen, sondern aus Worten.* Das bedeutet zunächst, man distanziert sich von der unmittelbaren inneren und äußeren Natur, denn »Farben und Klänge gibt es in der Natur, Worte nicht« (Benn). Wie es dann also zugeht, das hat dieser bedeutende Dichter klar beschrieben: sind ein paar Worte oder Verse herausgeschleudert, so beginnt die eigentlich künstlerische Zurichtung, man »legt sie in eine Art Beobachtungsapparat, ein Mikroskop, prüft sie, färbt sie, sucht nach pathologischen Stellen«* - ein skeptischer und raffinierter Prozeß, dessen Resultat eine chiffrierte Erregungsladung ist, ein »Wellenpaket«, wie die Physiker sagen. (Fs)
26b Die innere Stilähnlichkeit dieser Lyrik mit der abstrakten Malerei, mit der atonalen Musik ist frappant, und wieder die Familienähnlichkeit der Künste mit den neuen Wissenschaften. Da brauchen wir kaum noch den Hinweis, daß die modernen konkaven Gewölbeformen in der Architektur mit ihren gekrümmten und doppeltgekrümmten Flächen mit der Geometrie eines Riemann oder Lobatschewski verschwistert sind.* Die »gekrümmten Bäume« der Physiker haben Schule gemacht, schon gibt es rotierende Wohnhäuser, und man ändert die Bezugspunkte der Orientierung, so wie es die Theorie Einsteins vorschreibt. (Fs)
27a Wir behaupten nun keineswegs, daß alle diese Erscheinungen mit dem »Geist der Technik« unmittelbar, etwa gar kausal, zusammenzubringen wären. Immerhin kann man nicht verkennen, daß den einzelnen Disziplinen der Kultur ein machtvollerer Partner vorausging, der die Bresche schlug, indem er die Gesamtgesellschaft auf Beton und Stahl umpflanzte, die Natur aus den Augen schob und die Chancen des Lebenkönnens an die kühnsten, unwahrscheinlichsten Entwürfe der Intelligenz knüpfte. Die Bereitschaft zum Umkehren aller Voraussetzungen, die Unwiderstehlichkeit der »reinen« Lösungen, die Emanzipation vom Selbstverständlichen und von dem, was als »natürlich« eingewöhnt war - das sind die Motive, die in den modernen Künsten und Wissenschaften am Werke sind. Geheime und seltene Antriebe in der Menschheitsgeschichte, im Dunkeln immer schon am Werke, konnten doch nicht eher sich so laut und offen und ungehemmt und allseitig durchsetzen, wie sie es jetzt tun, bevor ihnen die technische Kultur nicht den Außenhalt gegeben hatte, eine Seite des Lebenswichtigen, siegreich Erfolgreichen und handgreiflich Beeilen, Mehr-als-Geistigen. Der antinatürliche Effekt, der aus den nichteuklidischen Räumen oder dreiwertigen Logiken ebenso herausspringt wie aus der Malerei Picassos, er ist gewollt, gewollt wie jede beliebige technische Problemlösung: nämlich mit einer triebhaften, unbewußten Logik, mit einer prozeßförmigen Unwiderstehlichkeit, die sich des wachsten, höchstgezüchteten Bewußtseins bedient, das sich souverän vorkommt und das sie vor sich herschiebt. Es handelt sich da um eine der ganz seltenen, großen Veränderungen des Zustandes, Mensch zu sein, um eine der säkularen Veränderungen nicht etwa nur der Lebensführung oder Wirtschaftsweise, sondern weit tiefer der Bewußtseinsstrukturen selber, ja der menschlichen Antriebsdynamik.* Man beobachtet heute den menschlichen Verstand im Zustande der Nachaufklärung am Werke, emanzipiert von der, wie die Aufklärung glaubte, in ihn eingegossenen Moral - die damit in die verzweifelte Rolle gedrängt wird, dem Wirksamen, Machbaren und Zweckmäßigen immerfort in die Zügel fallen zu müssen. (Fs)
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