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Autor: Lonergan, Bernard J.F.

Buch: Die Einsicht

Titel: Die Einsicht Bd. I und II

Stichwort: Sein: eine spontane Notion; das Streben nach Sein ist intelligent und rational (Bsispiel: Fötusauge);

Kurzinhalt: Denn das Streben nach Erkenntnis ist nicht unbewußt, wie das Fötusauge, und nicht empirisch bewußt, wie der Hunger, und auch nicht eine Konsequenz intellektuellen Erkennens, wie es Entscheidung und Wahl sind ...

Textausschnitt: 412a Wie kann nun aber eine Orientierung oder ein Streben eine Notion genannt werden? Ein Fötusauge ist auf das Sehen hin orientiert; aber ein Fötusauge sieht nicht und hat keine Notion von Sehen; eine Notion kommt in diesem Fall nur auf, insofern das Verstehen die zukünftige Funktion in der gegenwärtigen Struktur ermittelt. Der Hunger ist auf Nahrung und Essen hin orientiert; er ist ein Streben; er liegt im Bereich der empirischen Bewußtseins; aber eine Notion kommt nur insofern auf, als die Orientierung des Hungers verstanden wird. Zweckgerichtete menschliche Tätigkeit ist auf ein Ziel oder Produkt ausgerichtet; erkenntnismäßige Elemente liefern die Regel und Führung eines solchen Handelns; aber die erkenntnismäßigen Elemente gehen dem Handeln voraus; sie werden nicht durch die Handlung selbst konstituiert, sondern durch das Planen, das dieser vorausgeht. (Fs)

412b Nun ist keines dieser Beispiele eine exakte Parallele zur Relation zwischen dem [355] Erkenntnisstreben und dem Erkenntnisprozeß. Denn das Streben nach Erkenntnis ist nicht unbewußt, wie das Fötusauge, und nicht empirisch bewußt, wie der Hunger, und auch nicht eine Konsequenz intellektuellen Erkennens, wie es Entscheidung und Wahl sind. Das Erkenntnisstreben ist intelligent und rational bewußt; es ist die untersuchende Intelligenz und die reflektierende Vernunft. Einfach als Streben ist es eine Orientierung, noch ohne irgendeinen Erkenntnisgehalt oder -notion. Trotzdem hält die Intelligenz - vergleichbar der Vorderseite einer Münze - nach dem Intelligiblen als Rückseite Ausschau. Die Vernunft, als Vorderseite, hält nach dem Begründeten als Rückseite Ausschau. Noch grundlegender ist das Ausschauhalten, das Streben, das Untersuchen-und-Reflektieren, eine Vorderseite, die intelligent und rational auf ein uneingeschränktes Zielobjekt zugeht, welches das Sein genannt wird. Wäre diese Tendenz unbewußt, dann gäbe es eine Ausrichtung auf das Sein hin, aber es gäbe kein Streben nach Erkenntnis des Seins und keine Notion des Seins. Wäre diese Tendenz empirisch bewußt, dann gäbe es eine Ausrichtung auf das Sein hin und ein gefühltes Streben nach Erkenntnis des Seins, aber es gäbe keine Notion des Seins. In der Tat aber ist die Tendenz intelligent und rational, und somit gibt es nicht nur eine Ausrichtung auf das Sein hin, nicht nur ein reines Streben nach Erkenntnis des Seins, sondern auch eine Notion des Seins. (Fs)

413a Wir wollen nun versuchen, diese Notion, diese Intention des Seins, in ihrem Wirken zu erfassen. Wir sprechen von der Abstraktion und gemeinhin verstehen wir darunter eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf gewisse Aspekte des Gegebenen unter gleichzeitiger Vernachlässigung anderer Aspekte. Der Mathematiker betrachtet den Kreis als eine ebene Figur, die einer gewissen Regel gehorcht; er sieht von Größe, Farbe und Unexaktheit der Figur, die er zeichent oder sich vorstellt, ab; mehr noch sieht er von anderen und lockerer verbundenen Aspekten des Gegebenen ab. Das ist aber noch nicht alles. Er vernachlässigt alle anderen Fragen der Geometrie, alle anderen Abteilungen der Mathematik, alle anderen Gebiete der Wissenschaften, alle anderen menschlichen Beschäftigungen, auf die er zurückgreifen könnte. Er betrachtet allein den Kreis. Er abstrahiert von allem anderen. Er tut dies auf intelligente Weise; denn das Zielobjekt seines Strebens ist zwar uneingeschränkt, doch kann er sich nur auf es zubewegen, wenn er sich auf ein Element nach dem anderen konzentriert. Ferner, wie die Intelligenz abstrahiert, so sieht die Reflexion ab. Wenn ich beurteilen soll, ob dies eine Schreibmaschine ist oder nicht, muß ich von allem absehen, was für dieses Problem nicht relevant ist. Ich muß alles wissen, was relevant ist. Wäre ich ein Relativist, müßte ich das Universum kennen, um alles, was für dieses eine Urteil relevant ist, zu wissen. Auch wenn ich kein Relativist bin, auch wenn ich finde, daß viele bedingte Aussagen durch die Erfüllung einer beherrschbaren Zahl von Bedingungen virtuell unbedingt werden, ist diese Einschränkung des Relevanten doch begleitet von der Anerkennung eines Universums von Irrelevanzen. (Fs)

413b Schließlich, wie sich die Intelligenz auf das Signifikante konzentriert, um von [356] allem anderen zu abstrahieren, wie sich die Reflexion auf das Relevante konzentriert, um von allem anderen abzusehen, so kommen weitere Fragen und weitere Probleme nicht als eine Überraschung oder als ein Neubeginn auf. Das Abstrahieren und Absehen waren provisorisch; sie waren bloß Momente in einem umfassenderen Prozeß. Und dieser umfassendere Prozeß ist auch nicht bloß das Objekt einer introspektiven Analyse. Immanent in ihm und ihn bewirkend liegt ein intelligentes und rationales Bewußtsein, das uneingeschränkt ein entsprechend eingeschränktes Zielobjekt intendiert, welches das Sein genannt wird, oder das All, oder das Alles über Alles, oder das konkrete Universum. So wie die Notion des Intelligiblen im aktuellen Funktionieren der Intelligenz enthalten ist, so wie die Notion des Begründeten im aktuellen Funktionieren der Vernunft enthalten ist, so ist die Notion des Seins im uneingeschränkten Trieb der suchenden Intelligenz und der reflektierenden Vernunft enthalten. (Fs)

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