Autor: Augustinus, Aurelius Buch: Über das Glück Titel: Über das Glück Stichwort: frugalitas, Fülle - Maß, sophrosyne; Gott als höchstes Maß -> Wesensmitte der Seele Kurzinhalt: So ist also die aristotelische Maßidee der »richtigen Mitte« stets auch auf die platonische Maßidee des dem Menschen eingeborenen Urbildes seines eigenen Denkens angewiesen: ...
Textausschnitt: 105b Liefert so der rationale Diskurs in unserem Dialog in gewisser Hinsicht den Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung des augustinischen Denkens, sofern Lücken im Verständnis des Seinsaufbaus erkennbar werden, die später durch religiöse Formeln geschlossen werden müssen, so liefert uns Augustin zugleich auch die Beispiele, wie durch philosophische Reflexion das vordergründig Auseinandergerückte wieder vermittelt werden kann. Eines dieser Beispiele ist seine Darstellung der Maßidee. Sie macht im Fortgang des Gesprächs eine Entwicklung durch, ohne daß dieser Prozeß Augustin selbst bewußt gewesen sein muß. Augustin beginnt mit dem aristotelisch-stoischen Maßbegriff; tragend aber wird eine Maßvorstellung aus ganz anderer Quelle, deren metaphysischer Hintergrund als eigentliche Basis der Antworten Augustins erneut hervortritt und so die Substanz seines Denkens nochmals enthüllt. (Fs)
106a Vorgeben läßt sich Augustin den Begriff des Maßes von Cicero. Von ihm übernimmt er die Bestimmung, dit frugalitas sei die höchste Tugend. Nun deckt sich der Begriff der frugalitas in etwa mit dem aristotelischen Begriff der sophrosyne, meint also die besonnen-maßvolle Haltung, die Aristoteles zum Wesen jedes tugendgemäßen Lebens erklärt hat und die als (freilich nicht mathematisch zu verstehende) Mitte zwischen den Extrempositionen des Zuviel und Zuwenig charakterisiert ist. Der Begriff des Maßes ist sofern quantitativ abwägend, ist eine formale Bestimmung, die äußerliche Wertkriterien liefert, über die inhaltliche Füllung des jeweiligen Tugendbegriffs aber nichts ausmacht, diese vielmehr voraussetzt. Augustin erweckt den Anschein, als wolle er den platonischen Begriff der Fülle, den er mittels seiner Etymologie im Begriff der frugalitas entdeckt zu haben glaubt (frugalitas - Fruchtbarkeit - Fülle), auf den so formal gefaßten Maßbegriff hin auslegen. Kein Zweifel, daß dies den Intentionen Platons entgegen wäre, die gerade im Neuplatonismus offen zutage getreten waren, wenn Plotin die Schöpfung am Bilde des überfließenden Seinsquells zu erläutern suchte. Hier war Fülle gerade Überfülle, Fülle im Überfluß: das Sein ist so »reich«, daß es sich ständig an das Nichtsein mitteilen muß, ohne doch etwas von seiner Fülle zu verlieren: Emanation. Augustins Maßbegriff versucht demgegenüber scheinbar die Fülle auf das »nicht mehr und nicht weniger« festzulegen, das in sich stabil bleibt und so den Eindruck statischer Seinsverfassung vermittelt. Entsprechend hatte auch in der stoischen Tugendlehre der Weise »standhaft« zu sein: ein Bild in sich ruhender, unveränderbarer Ordnung. (Fs)
106b Sosehr sich aber Augustin auch in den Paragraphen 31-33 müht, solch stoisches Maß als Wesensbestimmung seiner Glückslehre zu vermitteln, bereits in Paragraph 34 wird dieses vordergründige Verständnis rhetorisch überrannt. Mit Blick auf christliche Trinitätsvorstellungen bestimmt er: »Daß es aber Wahrheit überhaupt gibt, beruht auf dem höchsten Maß, von dem sie ausgeht und zu dem sie sich zu ihrer Vollendung zurückwendet.« Hier wird die Voraussetzung benannt, deren der aristotelisch-stoische Maßbegriff immer bedarf: die inhaltlich maßgebende Idee Platons, die als apriorische »Bewußtseinstatsache« das Denken des Menschen in den Akten des Erkennens und sittlichen Handelns normativ bestimmt, die als das dem Menschen eigentümliche Sein des Geistes aber auch die immanente Wesensmitte seiner Seele ausmacht, sein eigenes »Selbst«, so daß durch dieses eingeborene »Maß« allein sichere Erkenntnis und freies Handeln möglich wird. Ohne dieses »Maß« gäbe es keine Gewißheit und Wahrheit: dann träfen die Sinneswahrnehmungen auf eine »leere Tafel« im menschlichen Erkenntnisvermögen, dann wäre es Zufallsergebnis, was an Vorstellungen und Bildern entstünde, ohne jede Möglichkeit zu verifizieren, das heißt zu vergleichen, wie die entstandenen Bilder beschaffen sein müssen, und ohne die Möglichkeit, einzuordnen und Urteile zu fällen. Jede Wissenschaft als nach streng methodischen Regeln der Verknüpfung und Begründung operierendes Denken wäre unmöglich: der Mensch wäre wie das Tier in dem, was er aufnimmt, fremdbestimmt durch Zufall und Neigung. Ohne dieses »Maß« gäbe es auch keine Freiheit sittlichen Handelns. Die Orientierungsmöglichkeit für das, was richtiges und was falsches Handeln, was gut und was böse ist, fiele aus; ohne solche Orientierung aber wäre der Mensch seiner kausalbestimmten animalischen Natur hilflos preisgegeben, ohne Möglichkeit, das Handeln selbstverantwortlich zu steuern und zu bestimmen: auch hier wäre der Mensch fremdbestimmt, sofern man das Vermögen, zu denken und sittlich zu handeln, als das Eigentliche, das »Selbst« des Menschen ansieht. So ist also die aristotelische Maßidee der »richtigen Mitte« stets auch auf die platonische Maßidee des dem Menschen eingeborenen Urbildes seines eigenen Denkens angewiesen: denn wie könnte man sonst erkennen, was eine »richtige« Mitte, was ein Zuviel, was ein Zuwenig ist, wenn ich all dies nicht beziehe auf ein Maßgebendes, das alle abgeleiteten Maße normiert, so wie das Pariser Ur-Meter allen Zollstöcken der Welt als Urmaß zugrunde gelegt wird? Wenn das Denken des Menschen daher von diesem »höchsten Maß« abfällt, wird es unwahr, weil preisgegeben dem pondus simulacrorum, das nun an Stelle des dem Menschen einwohnenden Geistes Denken und Handeln bestimmt. Umgekehrt: wenn sich der Geist zu diesem ihm wesenseigenen Maß zurückwendet, dann wird er wahr, vervollkommnet er seine Wahrheit. (Fs)
107a Wie aber? Macht nicht gerade diese Vorprägung durch eine inhaltlich-apriorische Normierung den Menschen unfrei und unfroh? Ist er nun nicht erst recht seiner Freiheit beraubt, wenn er, mag er sich drehen und wenden, wie er will, stets auf Weisung, Richtung, Ordnung stößt? Wo bleibt denn nun seine Spontaneität, sein Eigenes, wenn er eine Marionette ist in der Hand eines Gottes, der seinen normativen Abdruck in der menschlichen Seele hinterlassen hat und will, daß alles so sei wie er? (Fs)
107b Gott, das höchste Maß, ist für Augustin Spontaneität schlechthin, »das höchste Maß ist durch sich selbst Maß«; das heißt, es ist nicht weiter auf etwas anderes zurückführbar. In dieser Wendung »durch sich selbst Maß« kommt noch immer der platonische, aus dem vitalistischen Denken der Griechen entwickelte Begriff der Selbstbewegung als Ausdruck der Erstursächlichkeit zum Vorschein. Das höchste Maß ist das, was allem Maß gibt, aber an nichts Maß nimmt. Wäre es dem Menschen gegenüber, in dessen Geist sich dieses Maß ausprägt, ein Fremdes und Äußerliches, dann wäre der menschliche Geist in der Tat fremdbestimmt. Soll daher das der Seele eingeprägte Maß als ihr eigenes gelten können, dann nur, wenn Gott ihr nichts Fremdes und Äußerliches ist, sondern die Seele selbst göttlich ist, ihr so verwandt, daß Gott als die Wesensmitte der Seele selbst betrachtet werden muß. Die Transzendenz Gottes darf Gott nicht substantiell von der Seele scheiden. Gott muß vielmehr - bei aller qualitativen Differenz, durch die Gott als das Sein selbst alles Seiende überragt - zugleich auch identisch sein mit der Seele: Geist vom Geiste. So ist es also die göttliche Sonne selbst, die »in die Augen unseres Inneren Glanz gießt« und »aus der alle Wahrheit kommt, die wir reden« (35). Der Satz, alles sei Gottes Eigentum, zeigt in dieser Hinsicht Gott als das je Eigene von allem: das Sein selbst in der Einschränkung des Einzelseienden. So ist Abfall von Gott also Selbstentfremdung und Rückwendung zu Gott Heimkehr, wie Augustin immer wieder einschärft. Daher macht die volle Zuwendung zu Gott den Menschen glücklich, weil sie sein Innerstes und Eigenstes befriedigt und erfüllt. (Fs) (notabene)
108a Solange der Mensch freilich noch auf der Suche ist, vermag er Gott zu verfehlen. Noch wird er nicht aus der Fülle gesättigt, noch hat er das ihm innewohnende Maß nicht erreicht, noch mangelt ihm das Glück in seiner Vollkommenheit. Denn Gott ist der Seele zwar ganz nah - als Ziel ihres Weges aber zugleich fern. Eine eigentümliche Spannung liegt über dem Leben des Menschen: daß er das, was er immer schon ist, zugleich immer noch werden muß, daß er Gott hat und nicht hat zugleich, daß ihm Gott als Aufgabe gegeben ist. Der Mensch hat sich selbst nicht, solange er Gott nicht hat, und darum »ist unruhig unser Herz, bis es ruht in Dir«. (Fs; E08 05.12.2008)
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