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Autor: Hereth, Michael

Buch: Tocqueville zur Einführung

Titel: Tocqueville zur Einführung

Stichwort: Tyrannei der Mehrheit; Konformitätsdruck; Despotismus - Anarchie

Kurzinhalt: ... dass in der Demokratie ein Typus von Amtsinhabern vorherrschend wird, der seine Meinungen, Ziele und Vorstellungen den Stimmungen seiner Wähler anpasst und sie nicht an den Prinzipien der Freiheit, des Rechts und der Verfassung entwickelt.

Textausschnitt: 104a Nun kann man nicht ohne Grund einwenden, dass die Politik gar nicht so sehr überdurchschnittlicher Menschen bedarf und dass der politische Alltagsbetrieb wahrscheinlich sogar unter allzu vielen außerordentlichen Persönlichkeiten mehr leiden als davon profitieren würde. Dieser Einwand träfe Tocqueville jedoch nur dann, wenn man seine Aussagen im Sinne einer vom Geniekult des 19. Jahrhunderts geprägten Vorstellungswelt interpretiert, die ihre Vorbilder aus der italienischen Renaissance bezieht. Tocqueville ist weder Opfer eines wie auch immer gearteten Geniekults noch ein nostalgischer Verehrer italienischer Condottieri. Die Commentaries on American Law (1826-1830) des Juristen und Politikers James Kent zitierend, macht er deutlich, dass er Menschen mit einer strengen, nicht auf Popularität abgestellten Lebensführung und »Unnachgiebigkeit in den Grundsätzen« meint.1 (Fs)

104b Tocqueville befürchtet ganz offensichtlich - und nicht zu Unrecht -, dass in der Demokratie ein Typus von Amtsinhabern vorherrschend wird, der seine Meinungen, Ziele und Vorstellungen den Stimmungen seiner Wähler anpasst und sie nicht an den Prinzipien der Freiheit, des Rechts und der Verfassung entwickelt. Dies jedoch gefährdet die Freiheit der Bürger. Das Streben nach Sicherheit, Stabilität und Wohlstand, das das Verhalten der Mehrheit bestimmt, kann, wenn sich die Repräsentanten des Volkes dem anpassen, leicht zur Zerstörung von Freiheit und republikanischer Verfassung führen, auf jeden Fall aber einen so massiven Konformitätsdruck erzeugen, dass der Wille der Mehrheit sich in allen Fragen des kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Lebens durchsetzt. »Die Mehrheit hat in den Vereinigten Staaten also tatsächlich eine unermessliche Macht [...]; und steht sie einmal in einer Frage fest, gibt es sozusagen keine Hindernisse, die sie, ich sage nicht einmal aufhalten, sondern auch nur in ihrem Vormarsch verzögern könnten [...]. Die Folgen dieser Verhältnisse sind unheilvoll und für die Zukunft gefährlich.«2 Tocqueville bezeichnet hier die Möglichkeit der Unterdrückung nicht mehrheitskonformer Meinungen, Einsichten und Vorstellungen und prägt in diesem Zusammenhang die Formulierung von der »Tyrannei der Mehrheit«. (Fs)

105a Eine der Voraussetzungen für eine solche Entwicklung ist jener Typus von Bürger, der nicht Freiheit und Gerechtigkeit als einsetzbare und vorgegebene Prinzipien kennt und zur Maxime seines Urteils macht, sondern sich nach den Meinungen und Stimmungen der Mehrheit richtet. »Es gibt Leute, die sich nicht scheuen zu sagen, ein Volk könne in den Angelegenheiten, die es allein angehen, nicht vollkommen die Grenzen von Recht und Vernunft verlassen, und man solle sich folglich auch nicht scheuen, der Mehrheit, die es vertritt, alle Macht zu geben. Aber dies ist die Rede von Sklaven.«3 Tocqueville nennt diese Meinung nicht etwa unüberlegt oder irrig sklavisch: Denn tatsächlich handelt es sich bei dieser Meinung und der sich aus ihr ergebenden Haltung um eine Form von Unterwerfung und Selbstaufgabe, die sehr wohl sklavische Züge erkennen lässt. Warum sollte eine Mehrheit nicht irren können? Warum sollte sie nicht ungerecht, unvernünftig oder freiheitsfeindlich sein? Nur weil eine Überzeugung oder eine bestimmte Politik die einer Mehrheit ist, gewinnt sie noch keine qualitative Überlegenheit; sie ist mächtig und durchsetzbar; ob sie allerdings richtig, gerecht und vernünftig ist, kann nicht durch Abstimmung festgestellt werden. (Fs)

106a Wer also die Beurteilung, Kritik und Auseinandersetzung mit Mehrheitsmeinungen von vornherein ablehnt, unterwirft sich ihnen unter Verzicht auf die Anwendung der eigenen Vernunft. Er verhält sich sklavisch. »Was ist denn die Mehrheit im Gesamten genommen anderes als ein Einzelner, der Meinungen und meist Interessen hat, die einem anderen Einzelnen entgegenstehen, den man Minderheit nennt. Wenn man einräumt, dass ein Mann, der über Allmacht verfügt, diese gegen seine Gegner missbrauchen kann, warum soll man dann nicht auch zugeben, dass dies auch für eine Mehrheit gilt?«4 Gleichgültig, wer sie ausübt und welche Mehrheiten hinter ihr stehen, unkontrollierte und durch keine Gegenkräfte im Zaum gehaltene Macht ist eine Bedrohung der Freiheit. »Sehe ich also, dass irgendeiner Macht das Recht und die Fähigkeit, alles zu tun, eingeräumt wird, ob man sie Volk oder König, Demokratie oder Aristokratie nennt und ob man diese Macht in einer Monarchie oder in einer Republik ausübt, ich erkläre: Hier ist der Keim der Tyrannei und ich will unter anderen Gesetzen leben.«5

106b Der geistige und politische Konformitätsdruck, die irrige Meinung, die Mehrheit habe nicht nur immer Recht, sondern auch das Recht, alles zu bestimmen, sowie die fehlende Standfestigkeit von demokratischen Politikern stellen so im geistigen und politischen Leben einer Demokratie eine Gefahr für die Freiheit dar. Tocqueville, der seine französische Erfahrung auf die Zustände der amerikanischen Republiken bezieht, sieht drohend den Despotismus als Folge eines übermächtigen Strebens nach Konformität, das die Freiheit nicht gleichzeitig erhalten will. Dieser Despotismus kann jedoch in Anarchie umschlagen. »Sollte jemals die Freiheit in Amerika untergehen, so wird man dafür die Allmacht der Mehrheit verantwortlich machen müssen, die die Minderheiten zur Verzweiflung trieb und sie zwang, Gewalt anzuwenden. Man wird dann Zeuge der Anarchie sein, aber sie wird als Folge des Despotismus eintreten.«6 (Fs)

107a Der schrittweise Entzug politischer Praxis und damit erfahrbarer Freiheit drängt die Bürger dorthin, wo ihr Wohlstandsstreben, wenn es denn ihre Existenzausrichtung allein bestimmt, sowieso hinzielt: in die individualistische Privatexistenz. Die Mittel gegen die Gefahren des Individualismus stellen die aus der Untersuchung Amerikas gewonnenen Einsichten in die heilsame Wirkung lokaler Politik und freiheitlicher Praxis zur Verfügung. Für diese plädiert Tocqueville. (Fs)

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