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Autor: Hereth, Michael

Buch: Tocqueville zur Einführung

Titel: Tocqueville zur Einführung

Stichwort: Dilemma: Rekrutierung der politischen Führungsschicht; Problem des Wählens

Kurzinhalt: Woher und wie sollen aber die weniger klugen ... Wähler die Maßstäbe haben, um die Klügeren und Kenntnisreicheren als ihre Vertreter auswählen zu können?

Textausschnitt: Der Sieg des Mittelmaßes

101c Auch demokratische Gesellschaften bedürfen politischer Repräsentanten und politischer Führer. Da aber das Volk selbst das entscheidende Wort bei der Auswahl der politischen Elite spricht, tritt hier eine Reihe von bedeutsamen Problemen auf. Nach den Beobachtungen Tocquevilles ist die Auswahl der Inhaber öffentlicher Ämter weniger von abwägender Überlegung als von Stimmungen und Emotionen bestimmt. Er hat den Verdacht, dass es nicht immer das Bestreben ist, den Besten auszuwählen, welches das wählende Volk bei der Stimmabgabe bewegt. Es ist weniger böser Wille oder eine Vernachlässigung des Wohles des Landes, was die Bürger Fehlern beim Auswählen politischer Repräsentanten machen lässt, als vielmehr ihre Unfähigkeit, klug und wohl abgewogen über Kandidaten für öffentliche Ämter zu entscheiden. Diese hat eine ihrer Ursachen darin, dass die meisten Bürger einen großen Teil ihrer Zeit mit anderen Dingen beschäftigt sind als mit der Politik. Das Volk muss »immer in Hast urteilen und sich an das Vordergründigste halten. Dies hat zur Folge, dass Schwindler aller Art sich trefflich darauf verstehen, dem Volk zu gefallen, während seine wahren Freunde darin sehr häufig scheitern.«1 (Fs)

102a Das von Tocqueville angesprochene Problem der Rekrutierung der politischen Führungsschicht ist in der Tat ein gewichtiges Dilemma demokratischer Ordnung. Einerseits sollen die politischen Repräsentanten die Interessen, Wünsche und Vorstellungen der Bürger in der Politik berücksichtigen und beachten. Wie könnte dies besser erzwungen werden als dadurch, dass das Volk seine Vertreter selbst wählt? Andererseits erfordert die sachgerechte und abgewogene Auswahl politischer Amtsinhaber einen hohen Grad von Kenntnissen der öffentlichen Angelegenheiten. Besäßen die Bürger diese Kenntnisse, wäre die Wahl von Repräsentanten eigentlich unnötig. Die Bürger wüssten dann ja selbst, was notwendig und vernünftig ist. So hat das Wählen politischer Vertreter seinen Sinn nicht in der Identität von Wählern und Gewählten, sondern im Ziel der Auswahl der Besten. Woher und wie sollen aber die weniger klugen, weniger kenntnisreichen und weniger interessierten Wähler die Maßstäbe haben, um die Klügeren und Kenntnisreicheren als ihre Vertreter auswählen zu können? Die Möglichkeiten, die die Demokratie Demagogen, Scharlatanen und Schwindlern bietet, stellen tatsächlich eine unübersehbare Gefahr dar. Die Antwort, die die moderne Politik mit den politischen Parteien gefunden zu haben scheint, verschiebt nur das Problem, ohne es tatsächlich zu lösen. Denn für die Auswahl von Kandidaten in den Parteien gilt entsprechend, dass weniger kundige Parteimitglieder den Bürgern die Kundigsten als Kandidaten vorschlagen sollen. (Fs)

103a Dieses nicht endgültig lösbare Problem auch demokratischen Regierens wird durch einen sozialpsychologischen Umstand noch verstärkt. Wo die Gleichheit annähernd verwirklicht ist, beobachtet Tocqueville, wird das Streben nach ihr zum Hindernis der Wahl hervorragender Männer.1 Alles, was das Volk »in irgendeinem Bereich überragt, erscheint ihm als ein Hindernis seiner Wünsche, und es gibt keine noch so erwiesene Überlegenheit, deren Anblick sein Auge nicht belästigt«2. Der Durchschnittsbürger neigt dazu, »bedeutende Männer von der Macht fernzuhalten«3, teils aus Neid4, teils infolge des Wunsches nach Ausbau der Gleichheit und teilweise, weil er sich mit einem hervorragenden Repräsentanten nicht identifizieren kann. Objektiv hat er außerdem Schwierigkeiten, die Besten als solche zu erkennen. All dies weist darauf hin, dass der Vorzug des allgemeinen Wahlrechts ganz sicher nicht darin liegt, dass es die Gewähr für die Wahl der Besten gibt. »Das allgemeine Wahlrecht hat andere Vorteile, aber nicht diesen.«5 (Fs)

103b Wer immer das Problem des Wählens in einer demokratischen Gesellschaft vorurteilslos analysiert, muss einräumen, dass Tocqueville eine richtige Beobachtung wiedergibt. Die demokratischen Verfahren zur Bestellung politischer Amtsinhaber sind keine automatischen Garanten für die Qualität der Gewählten; und die Stimmungen und Meinungen der Wähler sind nicht immer das vernünftigste Kriterium für die Auswahl der Repräsentanten des Volkes. Was Tocqueville über die Möglichkeit sagt, dass die Wähler Irrtümern, Fehleinschätzungen oder falschen Auswahlkriterien erliegen, gilt nicht nur für die Masse des Volkes. Auch »die größten Geister« können sich bei der Beurteilung von Personen - das schreibt er ausdrücklich - irren.6 (Fs)

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