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Autor: Hereth, Michael

Buch: Tocqueville zur Einführung

Titel: Tocqueville zur Einführung

Stichwort: Geschmack an der Freiheit - Leidenschaft für die Gleichheit (l'amour de l'égalité)


Kurzinhalt: Nur wenn es gelingt, die Freiheit und das Streben nach Gleichheit zu verbinden, ist es möglich, der Gefahr der Verwaltungsdespotie zu entgehen

Textausschnitt: 97a Nur wenn es gelingt, die Freiheit und das Streben nach Gleichheit zu verbinden, ist es möglich, der Gefahr der Verwaltungsdespotie zu entgehen. Freiheit und Gleichheit müssen in ein vernünftiges Verhältnis zueinander gebracht werden. Ich habe darauf hingewiesen, dass der freiheitsgefährdende Rückzug der Bürger auf das Streben nach privatem Wohlstand durch die Gleichheit der Bedingungen möglich wird. So kann also unter bestimmten Bedingungen die Freiheit in Gegensatz zur Gleichheit geraten, d.h., demokratisch-egalitäre Verhältnisse können die Freiheit als politisches Gut und politische Praxis zerstören, weil die Menschen diese vergessen. Tocqueville beschreibt diesen Vorgang:

»Die demokratischen Völker lieben die Gleichheit zu allen Zeiten, es gibt aber gewisse Epochen, wo sie die Leidenschaft für sie bis zur Besessenheit steigern. Dies geschieht im Augenblick, wenn die alte gesellschaftliche Hierarchie, seit langem bedroht, sich nach einem letzten Bürgerkrieg vollends vernichtet, und die Schranken, die die Bürger trennen, endlich fallen. Die Menschen stürzen sich dann auf die Gleichheit wie auf eine Eroberung und sie klammern sich an sie wie an ein kostbares Gut, das man ihnen rauben will. Die Leidenschaft nach Gleichheit dringt von allen Seiten in das menschliche Herz ein, breitet sich darin aus, erfüllt es ganz. Man sage den Menschen nicht, dass sie durch diese blinde, ausschließliche Hingabe an eine Leidenschaft ihre teuersten Anliegen aufs Spiel setzen; sie sind taub. Man zeige ihnen nicht die Freiheit, die ihren Händen entschlüpft, während sie anderswo hinblicken; sie sind blind, oder vielmehr, sie erblicken im ganzen All nur ein Gut, das des Begehrens würdig ist.«1

98a Diese Beschreibung des selbstvergessenen Verfolgs der Gleichheit wird nun von Tocqueville nicht dazu benutzt, die Gleichheit zu verwerfen. Er schreibt, das oben zitierte Kapitel abschließend, über die Gleichheit: »In unseren Tagen kann die Freiheit nicht ohne ihre Hilfe begründet werden [...].«2 Es handelt sich also beim Verhältnis von Freiheit und Gleichheit im politischen Denken Tocquevilles nicht - wie oft behauptet wird - um einen strukturellen Gegensatz, sondern um ein Spannungsverhältnis, das sehr wohl vernünftig gestaltet werden kann: »Man kann sich einen äußersten Punkt vorstellen, wo Freiheit und Gleichheit sich berühren und verschmelzen. Ich setze voraus, dass alle Bürger an der Regierung teilhaben und dass jeder einen gleichen Anspruch auf diese Mitwirkung besitzt. Da keiner sich demnach von seinen Mitbürgern unterscheidet, wird niemand eine tyrannische Macht ausüben können; die Menschen werden vollkommen frei sein, weil sie alle völlig gleich sind; und sie werden alle vollkommen gleich sein, weil sie alle völlig frei sind. Dies ist das Ideal, dem die demokratischen Völker nachstreben.«3 Das völlige Verschmelzen von Gleichheit und Freiheit, das Tocqueville beschreibt, ist aber nicht die Situation, die man tatsächlich in den bestehenden politischen Gesellschaften vorfindet. Und so deutet er verschiedene Variationsmöglichkeiten - etwa soziale Gleichheit bei gleichzeitiger politischer Ungleichheit oder politische Gleichheit bei allgemeiner Unfreiheit - an, um darauf hinzuweisen, dass »man mithin berechtigt ist, die beiden voneinander zu unterscheiden.«4

98b Erst nach diesen allgemeinen Bemerkungen stellt er das politische Problem dar. Dieses besteht nicht im Gegensatz von Gleichheit und Freiheit, sondern vielmehr in den verschiedenen Beweggründen, die die Menschen dazu veranlassen, eher die Gleichheit zu lieben oder aber eine stärkere Vorliebe für die Freiheit zu entwickeln. Was also in einer mit Missverständnissen überfrachteten Debatte als Gegensatz von Dingen diskutiert wird, ist bei Tocqueville eine Frage der Ordnung des Bewusstseins, der Psyche. Er unterscheidet zwischen dem Geschmack an der Freiheit (goût de liberté) und der Leidenschaft für die Gleichheit (l'amour de l'égalité). Beides steht nicht im Gegensatz zueinander; doch es ist unübersehbar, dass in der Psyche des Menschen sehr wohl eine Präferenz für eins von beiden bestehen kann. Auf dieser Ebene handelt es sich mithin um eine Konkurrenz verschiedener psychischer Bewegungen, die die Lebensweise des Bürgers bestimmen können. (Fs)

99a Tocquevilles Analyse bleibt allerdings auch bei diesem Punkt nicht stehen. In seinem politischen Denken ist die platonische Einsicht präsent, dass die Polis der groß geschriebene Mensch ist. Tocqueville weiß, dass die Ordnung der Psyche des Einzelnen - und damit die Konkurrenz des Geschmacks an der Freiheit und der Liebe zur Gleichheit - nicht von der Gesellschaft isoliert werden kann. Die Meinungen, Stimmungen, Überzeugungen und vorherrschenden Glaubenshaltungen der Gesellschaft wirken auf den einzelnen Bürger ebenso ein, wie dieser jene beeinflusst. Hier liegt nun nach Tocqueville eines der zentralen Probleme demokratischer Gesellschaften. Die besondere und vorherrschende Erscheinung, die das Zeitalter der Demokratie auszeichnet, ist nach seiner Analyse die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen, und »die Hauptleidenschaft, die in solchen Zeiten die Menschen bewegt, ist die Liebe zu dieser Gleichheit«5. Die Entwicklung zur Gleichheit der Rechte und zur Gleichheit der Bedingungen verstärkt in den Bürgern diese Liebe und das Streben nach Gleichheit noch, was wiederum auf den gesellschaftlichen Prozess verstärkend zurückwirkt. Da die Menschen gleich sein und als Gleiche behandelt werden wollen, sieht Tocqueville wenig Sinn in einer Debatte, die dieser Entwicklung gegensteuern wollte. Er ist vielmehr der festen Überzeugung, dass die Frage vernünftiger demokratisch-egalitärer Ordnung unter dem Aspekt der Wiederherstellung oder Erhaltung politischer Freiheit in der egalitären Gesellschaft gesehen werden muss. Die Einleitung zur Demokratie in Amerika, behandelt als zentrale Gegebenheit die Entwicklung moderner Gesellschaften hin zu demokratischer Gleichheit der Bedingungen. Diese nach Tocqueville unaufhaltsame Entwicklung konfrontiert er mit der Aufgabe seiner »neuen politischen Wissenschaft«, die eben in der Herstellung und Erhaltung der Freiheit in der Demokratie besteht. Es handelt sich somit beim Verhältnis von Freiheit und Gleichheit nach Tocqueville nicht um einen unüberwindbaren Gegensatz, sondern um ein bedeutend differenzierteres In-einanderwirken von Geschmack an der Freiheit und Liebe zur Gleichheit. Hier und erst hier, im Ineinanderwirken von Freiheitsstreben und Liebe zur Gleichheit, die in der Psyche des Menschen aufeinander treffen und vom Entwicklungsprozess der Gesellschaft beeinflusst sind, findet jene dramatische Konkurrenz der verschiedenen Beweggründe statt, deren Beschreibung einen großen Teil des Werkes von Alexis de Tocqueville prägt. (Fs)

100a Die Konkurrenz von Freiheit und Gleichheit, die sich in der Psyche als Konkurrenz von Geschmack an der Freiheit und Liebe zur Gleichheit abspielt, wird in der Gesellschaft zur Konkurrenz verschiedener Aktivitäten. In der Gesellschaft der gleichen Startchancen verdrängt das ökonomische Erwerbsstreben tendenziell das politische Handeln, welches für Tocqueville die Praxis der Freiheit ist. Damit aber wird eine Lebensweise in der Gesellschaft zum »normalen« Habitus, die nicht die Lebensweise des freien Bürgers in der Republik ist; dies wiederum gefährdet die Republik selbst. Wirtschaftliche Vorteile werden in diesem Verständnis nicht als Basis praktischer politischer Aktivität angestrebt. Im Gegenteil: Die in der Politik errungenen gleichen Rechte werden zu Instrumenten des Strebens nach Wohlstand. Der politische Bereich der Praxis der Freiheitsrechte wird den Imperativen privater, ökonomischer Ziele untergeordnet. Die Politik wird zur Magd der Wirtschaft und die Freude am Freisein wird wegen der wirtschaftlichen Vorteile, die die Gleichheit bringt, der Liebe zu ebendieser Gleichheit unterworfen. (Fs) (notabene)

101a Die von Tocqueville festgestellte Konkurrenz zwischen Geschmack an der Freiheit und Liebe zur Gleichheit entpuppt sich bei genauer Untersuchung als Konkurrenz der Tätigkeitsbereiche Wirtschaft und Politik. Es geht dabei nicht um eine Konkurrenz, bei der das eine das andere ausschließt, sondern um eine Konkurrenz um die Vorherrschaft. Tocqueville, dem es um die Erhaltung praktischer Freiheitsrechte geht, warnt vor der Unterwerfung der Freiheit unter die Imperative ökonomischen Besitzstrebens. (Fs)

101b Jenseits der bis auf den heutigen Tag zweifellos wichtigen Untersuchungen Tocquevilles, in denen die Durchdringung der Politik mit wirtschaftlichem Denken kritisch dargestellt wird, hat der französische Liberale aber auch im politischen Bereich selbst problematische Auswirkungen der demokratischen Liebe zur Gleichheit auf die Republik beschrieben. Wir wollen deshalb seine kritischen Bemerkungen über die Auswahl politischer Repräsentanten in der Demokratie und seine Analyse der Gefahren eines übergroßen Konformisierungsdruckes untersuchen, um die Darstellung dann mit Tocquevilles wichtiger Unterscheidung von Einheitlichkeit und Gleichheit fortzusetzen. (Fs)

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