Autor: Riesman, David Buch: Die einsame Masse Titel: Die einsame Masse Stichwort: Schelsky: Vorwort; Autonomie - Angepasstheit; unechte Verpersönlichungen Kurzinhalt: ... so liegt die Chance zur Autonomie der Person zwischen Anomalie und Angepaßtheit: der <Autonome> ist der Mensch, der fähig ist, auf die Ansprüche der Gesellschaft einzugehen ...
der aber zugleich die Kraft findet, ... Textausschnitt: 17a Dieser personalen Verantwortlichkeit, von der aus Riesman seine wissenschaftlichen Aussagen bewußt steuert, gilt nun auch der letzte Teil seines Buches. Bei allen soziologischen Zeitanalysen wird ja immer ein System gesellschaftlicher Determination für das Handeln des Menschen entwickelt, ein Geflecht sozialer Beziehungen, in das er völlig eingespannt zu sein scheint; ebenso selbstverständlich erhebt sich aber gegenüber dieser soziologischen Reduktion die Frage: Was ist der Mensch denn noch? Oder philosophischer formuliert: Wo ist der Raum der Freiheit der Person gegenüber dieser sozialen Determiniertheit? An dieser Frage verlassen Philosophen und Theologen gern die Soziologie, um sich unbeschwert von deren Aussagen im Spekulationsraum menschlicher Freiheiten zu ergehen, während die Soziologen häufig, um bei sich zu Hause bleiben zu können, achselzuckend auf die Beantwortung der Frage verzichten. Nicht so Riesman; er gibt auf die Frage nach der Freiheitschance der Person, die er mit dem Begriff der <Autonomie> oder <Eigenständigkeit> des Menschen zu fassen sucht, eine interessante, und zwar soziologische Antwort: die Sozialstruktur der modernen Gesellschaft ist in sich nicht so homogen, daß sich nicht überall Spannungen und Widersprüche z.B. zwischen dem jeweiligen Zeittrend zur Konformität und den Sachansprüchen der Institutionen oder den in älterer Tradition verharrenden menschlichen und sozialen Beziehungen ergäben; in diesen Spannungen, Widersprüchen und Lücken der sozialen Gesetzlichkeiten liegt die Chance zur Autonomie der Person. (Fs)
18a Mit dieser soziologischen Ortsbestimmung der personalen Eigenständigkeit sind die positiven und direkten Aussagen der Soziologie über die Autonomie allerdings zunächst erschöpft, denn Riesman ist sich der Möglichkeit einer Kausaldetermination des Schöpferischen oder der realisierten Freiheit durchaus bewußt. Nur der Verfall ist voll determiniert; so gelingt es Riesman auch, wesentlich ausführlicher die sozialen Hindernisse für eine Autonomie der Person in der Gegenwart aufzuweisen oder den Charakter der von der <Autonomie> abgeglittenen, defizienten Verhaltensformen zu bestimmen. Unfrei ist zunächst der <Anomale>, der aus irgendwelchen Ursachen unfähig ist, den Normen seiner Gesellschaft zu gehorchen und durch diese Anomalität in irgendwelche Zwangsgesetzlichkeiten des Verhaltens, Neurosen, Hysterien, Verwahrlosung, Kriminalität usw., abgedrängt wird. Unfrei und ohne Autonomie ist aber auch der nur oder voll <Angepaßte>! Mit dieser These tritt Riesman einem in der amerikanischen Psychologie und Soziologie weitverbreiteten Verhaltensideal und -anspruch entgegen: der <Anpassüng> als einer unbedingt positiven Verhaltensform. Für ihn ist der voll Angepaßte immer zugleich <über-angepaßt> (overadjusted), jemand, <der versucht, sich den Charakter anzueignen, den man von ihm erwartet> (S. 252), also ein Mensch, den die Gesellschaft geschaffen, der aber sich selbst noch nicht geschaffen hat. Das Verharren in der bloßen sozialen Konformität wird also als ein defizienter Verhaltenstyp bestimmt. (Fs)
18b So liegt die Chance zur Autonomie der Person zwischen Anomalie und Angepaßtheit: der <Autonome> ist der Mensch, der fähig ist, auf die Ansprüche der Gesellschaft einzugehen - was der Anomale nicht kann -, der aber zugleich die Kraft findet, sich zu Zeiten und in bestimmten Bereichen diesem sozialen Konformitätsdruck zu entziehen, was dem Angepaßten und Anpassung Suchenden nicht gelingt. In dieser Definition ist ohne Zweifel ein Ratschlag verborgen: das Ansinnen, sich zu einer wenigstens teilweisen Nonkonformität und Distanzierung gegenüber den Zeittendenzen und dem sozialen Anpassungs- und Zähmungsdruck zu erheben. Es ist der Ratschlag eines Gebildeten, ein - wie man bei etwas tieferem Schürfen leicht feststellen wird - in das weltliche Moderato übersetzter religiöser Vorschlag zu einer verdünnten Askese gegenüber den Sozialansprüchen und -exzessen unserer <Welt>. Riesman steht mit diesem Ratschlag nicht allein; bei Paul Tillich finden wir den Satz: <Die Person als Person kann sich nur bewahren durch eine partielle Nicht-Partizipation an den vergegenständlichten Strukturen der technisierten Gesellschaft (<Christian Thought and Social Action>. New York 1953); Eugen Rosenstock-Huessy spricht in seinem jetzt auch deutsch vorliegenden Buch <Des Christen Zukunft> (München 1955) von der Notwendigkeit von Haltungen, <die gegen die allgemeine Tendenz gehen>, und sieht in den modernen kollektiven Verhaltensformen geradezu die neue Art der Sünde, die das Christentum vor eine neue Aufgabe der Bekehrung stellt; in der deutschen Soziologie mehren sich die Bemerkungen über <Konsumaskese>, über den Rückzug ins Private, über die Person-Chancen der zwecklosen Muße in der Freizeit, der unorganisierten Hobbies usw. (und der Verfasser dieser Zeilen weiß sich an solchen Hinweisen durchaus mitschuldig). Diese Art Ratschläge finden sich offenbar immer da, wo die Soziologie ernst genommen und doch zugleich transzendiert wird; sie scheinen vorläufig der soziologischen Weisheit letzter Schluß zu sein. (Fs)
19a Aber es sind Wahrheiten, von denen zumindest der Soziologe nur mit Bedenken und innerem Widerspruch die Schleier lüftet; solche Ratschläge tragen für ihn die Gefahr in sich, daß daraus eine <Predigt der Soziologie> wird. Vorschläge von Soziologen werden allzu leicht zum sozialen Programm - und damit zur organisierten Freiheit>. Auch Riesman hätte sich widersprochen, wenn seine <autonome Persönlichkeit zum sozialen Anspruch würde. So gilt seine letzte intensive Analyse gerade dem Nachweis, daß die als soziale Rolle aufgedrungene Individualität, der mit der Mode der <Pflege der menschlichen Beziehungen> in der Arbeit und den ebenso modischen Ansprüchen auf Menschen- und Personbildung in der Freizeit einhergehende Abbau der Sachlichkeit im Beruf und der bloßen Müßigkeit und Zwecklosigkeit der arbeitsfreien Zeit zu unechten übertriebenen <Verpersönlichungen> führen und heute geradezu als die entscheidenden Hindernisse der Sozialstruktur auf dem Wege zur Autonomie der Person angesehen werden müssen. Diese Kritik der <Verpersönlichung> und Humanisierung als eines sozialen Programms, ja, als des pseudoethischen Ideals schlechthin der außen-geleiteten Gesellschaft, ist wiederum explizit und beweiskräftig vorgetragen; daß die darin liegenden Andeutungen oder Schlußmöglichkeiten e contrario zum Verständnis und zur Einsicht über die echte Autonomie der Person fuhren, entzieht sich der soziologischen Demonstration und bleibt Hoffnung des Verfassers. So scheint mir Riesmans Buch zu zeigen, daß das Höchste, was die Soziologie als Analyse der Zeit und des Zeitgenossen zu erreichen vermag, nur eine indirekte Morallehre ist. (Fs) (notabene)
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