Autor: Riesman, David Buch: Die einsame Masse Titel: Die einsame Masse Stichwort: Schelsky: Vorwort; soziales Gewissen; Sittlichkeit -> Gesinnung; Kurzinhalt: Sind wir Deutschen heute weniger <außen-geleitet> in unserem Verhalten als etwa unter dem Nationalsozialismus?
Textausschnitt: 12a Zum Kern eines Vergleichs stoßen wir aber wohl erst vor, wenn wir die <Außen-Lenkung> des modernen Menschen als die Konstituierung und ständige Regelung seiner moralischen Normen durch die Meinung seiner Umwelt oder der Öffentlichkeit begreifen und darin eine Abwendung des neuen Typs von einer älteren Moralität sehen, die darin bestand, daß der einzelne die moralische Verantwortung für seine Handlungen nur in den ein Leben lang festgehaltenen prinzipiellen Grundsätzen seines eigenen Innern und Gewissens fand. <Außen-Lenkung> als eine neue Form des Gewissens! Nun, ich finde, damit treffen wir auf eine keineswegs unaktuelle oder unwichtige deutsche Wirklichkeit. Die Erfahrung, daß sich durch Veränderungen der sozialen Umwelt und der öffentlichen Meinung die Standards dessen, was als <gut> und <anständig> nicht nur galt, sondern auch von dem einzelnen empfunden wurde, ebenfalls wandelten, und zwar in einem Maße, daß derjenige, der seine eigenen innerlichen Prinzipien der <Anständigkeit> durchhalten wollte, immer im Unrecht oder mindestens in der sozialen Isolierung war - diese Erfahrung sollte uns nicht fremd sein. (Fs) (notabene)
12b Und weiter: Riesman sieht diesen Wandel vom prinzipiellen und individualistischen Gewissen zum <sozialen Gewissen> keineswegs nur als eine ethische Korruption an, sondern als die Folge einer Entwicklung, in der der Mitmensch und die Rücksicht auf den anderen Menschen immer mehr in den Vordergrund der moralischen Ansinnen getreten sind. Also nicht nur der kollektivistische Terror, sondern auch die betonte und geplante demokratische Kooperation, die Sucht nach <human relations), führen zu einer Haltung, in der Nivellierung (<Gut-sein> heißt <Wie-der-andere-sein>) und Opportunismus (<wenn der Held siegt, ist er sittlich>, Riesman, S. 115) zur gebilligten, moralischen Grundausstattung des Menschen gehören. Bei uns nannte man dies und nennt es noch: Gesinnung, in eben der Bedeutung, die ihr Hegel in der Analyse des Tugendterrors Robespierres gegeben hat: <Die Gesinnung aber kann nur von der Gesinnung erkannt und beurteilt werden> (<Philosophie der Weltgeschichte>), d. h. sie erfährt ihre Rechtfertigung nur in der Zustimmung, ihre Verurteilung bereits im Verdacht der anderen und nicht des eigenen Gewissens. Wenn Riesman das Kapitel, in dem er diese Erscheinungen beschreibt, mit dem Titel <From Morality to Morale> versieht, so muß man, um den Zeittenor dieser Begriffe zu hören, etwa davon wissen, daß es eine <Morale Division> in der amerikanischen Wehrmacht gab, die die politische und militärische Standfestigkeit der Soldaten dauernd testete und für ihre Stärkung oder ihren Schutz durch propagandistische Intoxikation sorgte, daß weiterhin zu den wichtigsten Anliegen der ebenfalls unter Kriegsnotwendigkeiten entstandenen amerikanischen Betriebssoziologie das Problem <Management and Morale> gehörte und damit keineswegs die Frage des Arbeitsethos, sondern der Arbeits- und Betriebsgesinnung, also der sozialen Rechtfertigung und Motivierung der Arbeit, des Arbeitsfriedens und der Produktionswilligkeit, gemeint war usw. Wir glauben also ein Recht gehabt zu haben, jenen Titel im Deutschen mit den Begriffen <Von der Sittlichkeit zur Gesinnung) wiederzugeben. Gewiß: die Erscheinungen des politischen Gesinnungsterrors, des <NS-Führungsoffiziers> oder <Kommissars> usw. gehören anderen politischen Systemen an als die amerikanischen Beispiele und bedeuten daher politisch etwas anderes; die Frage ist doch aber, ob nicht unterhalb der Verschiedenheit der politischen Systeme - eine Verschiedenheit, die in ihrer Bedeutung nicht verkleinert oder beiseite geschoben werden soll - eine Gleichheit der menschlichen Haltungen und Welteinstellungen in unserer Zeit und modernen Gesellschaft erwächst, die dann wiederum erklärt, weshalb auch ein radikaler politischer Systemwechsel nur die jeweiligen Richtungspunkte und materiellen Gehalte, nicht aber die Reaktionsform selbst dieses <Gewissens von außen> zu verändern vermag. Sind wir Deutschen heute weniger <außen-geleitet> in unserem Verhalten als etwa unter dem Nationalsozialismus? Welche neue Art von Moralität bahnt sich unter uns an, wenn wir heute in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft usw. immer wieder der Versicherung begegnen, daß <der Mensch> im Mittelpunkt des Geschehens und der Programme zu stehen habe? So etwa müßten die Fragen lauten, die Riesmans Analyse des <außen-geleiteten Verhaltens> uns für unsere Selbsterkenntnis nahelegt - und zum Teil wohl auch schon beantwortet, obwohl er nur von Amerikanern spricht. (Fs) (notabene)
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