Autor: Riesman, David Buch: Die einsame Masse Titel: Die einsame Masse Stichwort: Schelsky: Vorwort; allgemein zu David Riesman Kurzinhalt: Diese Schematik oder Typologie der Traditions-, Innen- und Außen-Lenkung des Verhaltens stellt das Grobgerüst dieser Analyse dar, in das der Verfasser nun die vielfältigsten Beobachtungen und Deutungen des Zeitgeschehens und der Zeitgenossen einträgt.
Textausschnitt: 8b So stützen sich seine Aussagen über den Charakter des modernen Amerikaners durchaus an vielen und wichtigen Stellen auf empirische sozialwissenschaftliche Forschungen und Befragungen, zum Teil sogar auf die von ihm und seinen Mitarbeitern selbst durchgeführten. Als zweiten Band zu der <Einsamen Masse> haben er und seine Mitarbeiter daher auch noch einen Band von Materialien <Faces in the Crowd> (1952) veröffentlicht, in dem die in diesem Werk geschilderten Wesenszüge des Amerikaners in Monographien einzelner Personen und der Schilderung ihres Lebensalltages individuelles Gesicht gewinnen. So wie sich Riesman durch diesen dauernden Rückgriff auf die empirische Erhebung vor der ideengeschichtlichen Gefahr subjektiver Spekulation und Überfolgerung einzelner Erlebnisgehalte schützt, so weiß er umgekehrt auch um die Nichtigkeit aller übertriebenen methodischen Exaktheit, die auf unserem Wissensgebiet dann sehr schnell in einem aussagelosen Skrupulantentum endet. Er hat in einem Artikel <Some Observations on Social Science Research (in <Individualism Reconsidered>, p. 467 ff) die in den USA mit großem Aufwand an Geld und Methode durchgeführten sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekte auf ihre geistige Aussage hin kritisiert und ihre Erkenntnisse zwar nicht als belanglos, aber gemessen am Aufwand doch als relativ unerheblich beurteilt; in einigen Fällen konnte er ironisch darauf hinweisen, daß die von der Methode eigentlich nicht eingeplanten Nebenerfolge der Untersuchungen die bei weitem geistvollsten und erkenntnisreichsten Aussagen über die Wirklichkeit geliefert hätten. Wir werden dieser Ironie über Tests, soziometrische Erhebungen usw. auch in dieser Schrift öfters begegnen; sie beruht darauf, daß ein Soziologe die Methoden seines Faches selbst als einen sozialwissenschaftlich bedeutsamen Gegenstand zu sehen und zu deuten vermag. (Fs)
9a Riesman geht es um Aussagen, die sich in ihrer Allgemeinheit der bloß statistischen Exaktheit und Konfiguration weitgehend entziehen. Wir müssen seine soziologischen Wahrheiten eher als eine Art Feldmassierung einleuchtender Gedanken an Hand empirisch erhobener Tatbestände betrachten, als darin etwa abmeßbare Figuren, sei es statistischer oder logisch-systematischer Herkunft, zu suchen. Obwohl er in seiner Analyse von amerikanischem Material ausgeht und die volle Verantwortung seiner Aussagen - laut Titel - auch auf den Amerikaner von heute eingeschränkt wissen will, tun wir ihm doch kein Unrecht, wenn wir seine Erkenntnisse überall dort als zutreffend ansehen, wo die gleichen sozialen Bedingungen wie im modernen Amerika zum Zuge kommen, d. h. wo wir die Auswirkungen der durchgesetzten Industrialisierung und der sie begleitenden Wohlstands- und Konsumerhöhungen, der Vergroßstädterung und Verwissenschaftlichung der Lebensführung usw. antreffen; in diesem Sinne meint er selbst, daß seine Untersuchung <eine Analyse sowohl des Amerikaners als auch des heutigen Menschen überhaupt darstellt> (S. 36). Über die notwendige Ignorierung der darin liegenden methodischen Bedenken, die ja nur dem fachkundigen Leser kommen werden, bittet Riesman durch die Mottos des 1. Kapitels den Kenner um stillschweigendes Einverständnis. (Fs)
9b Diese methodische Unbekümmertheit dessen, der etwas Wahres, Wichtiges und Neues auszusagen hat, kommt bereits in dem Grundschema zum Ausdruck, das Riesman seiner Untersuchung zugrunde legt: in der Dreiteilung der Verhaltensformen in traditions-geleitete, innen-geleitete und außen-geleitete. Aus den schwierigen und keineswegs einheitlichen psychologischen und sozialpsychologischen Definitionen des <Charakters> greift sich Riesman ein Bruchstück oder einen Aspekt heraus: die soziale Verhaltensdetermination, die zu einer Verhaltensgleichheit der Zeitgenossen führt, <die Art und Weise, wie die Gesellschaft einen gewissen Grad von Verhaltenskonformität der ihr zugehörigen Individuen garantiert (S. 22). Diese sozialbedingte Verhaltenskonformität nennt er für seine Zwecke <Charakter> und findet nun an Hand der europäisch-amerikanischen Gesellschaftsentwicklung drei Typen solcher <Charaktere> oder sozialer Verhaltenskonstanten: Eine <traditions-geleitete> Gesellschaft lenkt die Einzelindividuen durch überkommene, sehr konkrete, oft kasuistische soziale Werte, die durch ihre institutionelle Veräußerlichung in Sitte, Brauchtum, Zeremoniell usw. auf den einzelnen in lange gleichbleibenden Situationen einwirken; die <innen-geleitete> Gesellschaft bestimmt die Individuen durch persönliche, verinnerlichte Werthaltungen prinzipieller Art, die dem dynamischen Wechsel der sozialen Situationen gegenüber durch ihre Abstraktheit anwendbar bleiben; in einer <außen-geleiteten> Gesellschaft wird die Anerkennung der <anderen>, das Sich-Richten nach der öffentlichen Meinung und ihren <Signalen>, d. h. den Informationen der Massenpublizistik, nach Kollegen, Alters- und Standesgenossen usw. zum entscheidenden Maßstab, mit dem die einzelnen ihre Handlungen messen und bewerten. Für die beiden letzten Typen hat Riesman ein einprägsames Bild gefunden: der <innen-geleitete> Mensch handle so, als ob er ein moralisches Gyroskop oder einen Kreiselkompaß in sich eingebaut habe, während der <außen-geleitete> Mensch sein Verhalten sozusagen durch ein Meinungs-Radargerät dauernd orientiere. (Fs) (notabene)
10a Riesman verknüpft diese Typologie des Verhaltens nun soziologisch-historisch mit der Bevölkerungsgeschichte und den Bevölkerungsgesetzlichkeiten, weil er darin mit Recht eine der vitalsten Grundlagen des sozialen Geschehens erblickt. Die traditions-geleitete Verhaltensweise scheint ihm zu der Epoche des hohen Bevölkerungsumsatzes, d.h. der hohen Geburts-, aber auch Sterberate vorindustrieller Gesellschaftsformen zu gehören. Die erste Epoche der Industrialisierung wiederum wird in Europa und Amerika getragen von einer geschichtlich einmaligen Bevölkerungsvermehrung oder Bevölkerungswelle, die aus dem Absinken der Sterbefälle bei gleichbleibender Geburtenhöhe resultiert; ihr ist der <innen-geleitete> Verhaltenstyp zuzuordnen. Mit der Konsolidierung des industriellen Gesellschaftssystems - in Europa-Amerika etwa in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts - setzt nun auch jene Beschränkung der Geburtenzahlen ein, die als Anpassung an die moderne Gesellschaftsstruktur, z.B. an deren gesunkene Sterblichkeitsrate, anzusehen ist und zu einer neuen Konstantheit, ja, sogar zu einer gewissen Schrumpfung der Bevölkerungszahlen der industrialisierten Gesellschaften führt; mit diesem Vorgang scheint für Riesman die Geburt des <außen-geleiteten> Menschentyps verbunden zu sein. Indem er so die Entwicklung seiner Verhaltenstypen mit dem Wandel der Bevölkerungsgesetzlichkeiten verbindet, von dem die Demographie beweisen zu können glaubt, daß er in allen Völkern gleichmäßig vor sich ginge, die von einer primär agrarischen Wirtschaftsstufe zu einem industriellen System übergehen (vgl. in der deutschen Literatur dazu Gerhard Mackenroth, <Bevölkerungslehre>, 1953), gewinnt Riesman für seine Aussagen eine über die soziale Entwicklung Amerikas oder auch noch Europas hinausreichende Beweiskraft. (Fs)
10b Diese Schematik oder Typologie der Traditions-, Innen- und Außen-Lenkung des Verhaltens stellt das Grobgerüst dieser Analyse dar, in das der Verfasser nun die vielfältigsten Beobachtungen und Deutungen des Zeitgeschehens und der Zeitgenossen einträgt. Indem das Schema seine Konkretisierung auf den verschiedensten Lebensgebieten erfährt, in der Kindererziehung, in der Haltung zu Literatur und Publizistik, in den Verbrauchergewohnheiten, in der Einstellung zur Berufsarbeit, im politischen Leben usw., gewinnt es die Fülle der Aussage im Detail, die den wissenschaftlichen Gewinn dieses Buches ausmacht. Wie bei Pareto oder Spengler dient eine sehr einfache und schematische Hypothese dazu, die Erscheinungen eines kulturellen Zusammenhanges - hier unserer Gegenwart - unter neue Blickwinkel zu stellen und ihnen so bisher wenig bemerkte Eigenschaften und überraschende Einsichten abzugewinnen. Dieses Grundschema mag also in seiner Einfachheit und Einseitigkeit kritisiert oder gar - wie Spenglers Kulturkreislehre - mit der Zeit widerlegt und abgeschrieben werden, seine Fruchtbarkeit, zu einem tieferen Verständnis unserer Zeitwirklichkeiten geführt zu haben, würde damit wenig berührt. Es wäre daher zu bedauern, wenn die Wirkung dieses Buches allzusehr darin bestünde, daß diese dreiteilige Verhaltenstypologie, zur Formel erstarrt, nun wie eine gängige Münze von Hand zu Hand ginge. Sie wäre schnell abgegriffen und der Verfasser, um den Rang seiner Wahrheiten zu wahren, zum Widerruf genötigt. (Fs)
11a Viel wichtiger erscheint es mir, an Hand seiner Aussagen über den Amerikaner nachzuspüren, wieweit diese auch für unsere eigene soziale und menschliche Wirklichkeit zutreffen. Nehmen wir als Beispiel seine wichtigste Aussage über den Zeitgenossen: daß dieser ein <außen-geleiteter> Mensch sei. Verifiziert wird diese Behauptung vornehmlich an dem mittelständisch-bürgerlichen Typ, der in den Wohnvororten der amerikanischen Großstädte zu Hause ist, der eine College-Erziehung genossen oder wenigstens seine alten Vorurteile durch die von den Colleges ausgehenden wissenschaftlichen ersetzt hat; sein Verhalten unterliegt, wenn er von seiner Büroarbeit in seine Wohnsiedlung kommt, stark dem Normierungsdruck seiner Nachbarschaft, der Clubs und der sozial harmonisierenden Veranstaltungen, die ihm Gemeinde, Schule und andere um seine Persönlichkeit bemühte Institutionen unvermeidlich aufdrängen. Vor allem aber wird dieser Verhaltenstyp bereits von einem Grundschulsystem geprägt, das die Erziehung des Menschen zur reibungslosen sozialen Kooperation gegenüber aller Erziehung zur Leistung in den Vordergrund stellt, durch dauernde soziometrische Tests sichert und in seinen pädagogischen Methoden von einer geradezu neurotischen Ängstlichkeit davor ist, Spannungen zu erregen. Ist das alles nicht sehr spezifisch amerikanisch und für uns mehr kurios, als daß es uns selbst beträfe? (Fs)
11b Ich glaube es nicht: schüttelt man dieses Kaleidoskop der Eigenschaften des amerikanischen Zeitgenossen auch nur ein wenig, so erhält man sehr bald Gestaltkonfigurationen, die uns selbst gleichen. Ist nicht auch unsere Schule mit ihrer Betonung der Persönlichkeits- und Charaktererziehung des Kindes und in ihrer Ablehnung des Lern- und Leistungsprinzips der älteren Pädagogik auf einem Wege, dessen Endstationen in dem amerikanischen Beispiel sichtbar werden? Breitet sich nicht auch bei uns eine mittelständische Mentalität immer mehr aus, die aus dem Anwachsen von Büro- und Funktionärberufen jeder Art stammt und vergleichbare Bedürfnisse des sozialen Prestiges nach Teilnahme an den kulturellen und wissenschaftlichen Gütern entwickelt? Vor allem aber scheint mir hier der Einfluß der Massenkommunikationsmittel - der Zeitungen, Illustrierten, des Radios und Kinos usw. - auf die tieferen Verhaltensschichten des Menschen, auf seine Art der Weltsicht und -Orientierung, prinzipieller erfaßt zu sein, als dies bisher in irgendeiner psychologischen oder anthropologischen Analyse sonst der Fall war. Riesman macht ernst mit einem Bilde des Menschen, dessen Welt primär aus Zeitungspapier und sonstigen publizistischen Informationen besteht. (Fs)
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