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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Soziologie der Sexualität - Abnormalität; Homosexualität: soziale Faktoren (allgemein; Schwierigkeit der Mann-Rolle in der modernen Gesellschaft)

Kurzinhalt: Die umgekehrte These, daß die soziale Ordnung und Umwelt Ursache und Veranlassung homosexueller Geschlechtsbeziehungen bilden, ... ist bisher weitgehend vernachlässigt worden ...

Textausschnitt: 4. Soziale Faktoren der Homosexualität

75b Die homosexuelle Geschlechtsbeziehung entspricht in ihrer Verfehlung des gegengeschlechtlichen Parrnerbezuges, ihrem autistischen und narzißtischen Verharren beim eigengeschlechtlichen Leibe und ihrer biologischen und sozialen Zwecklosigkeit wohl am offenbarsten unserer Kennzeichnung des abnormen Sexualverhaltens. Sie ist neben oder nach der Masturbation wohl die zahlenmäßig am häufigsten auftretende sexuelle Anomalie; folgen wir den Angaben der KiNSEY-Berichte für die amerikanische Bevölkerung, so betätigen sich rund 4% der männlichen Bevölkerung ausschließlich homosexuell, während etwa 46% mit unterschiedlicher Häufigkeit und Intensität sich sowohl homo- als auch heterosexuell im Laufe ihrer Erwachsenenjahre verhalten; für die Frauen will Kinsey diese Angaben auf die Hälfte bis zu einem Drittel reduziert wissen. Andere Schätzungen liegen zum Teil höher, bei strengerer Begriffsfassung eines perversen Verhaltens zum Teil niedriger; es besteht aber unter den Sachkennern die Neigung, diese Angaben Kinseys für durchaus vertretbare Annäherungswerte in allen Gesellschaften moderner westlicher Zivilisation zu halten. (Fs)

76a Sehr verbreitet ist die Ansicht, die Homosexualität als eine angeborene, also wesentlich biologisch bestimmte Variante der Geschlechtlichkeit zu verstehen; das Schwanken zwischen hetero- und homosexueller Geschlechtsbetätigung wird ebenso biologisch auf eine jedem Menschen eingeborene Bisexualität zurückgeführt. Abgesehen davon, daß der Einfluß der Vererbung oder der hormonalen Konstitution auf einen homosexuellen Geschlechtshabitus noch sehr ungeklärt ist, leisten die biologischen Deutungen nichts zur Erklärung des für die Homosexualität gerade sehr wesentlichen Tatbestandes, daß sie in ihrer Häufigkeit sehr starken Schwankungen unterliegt; wir wissen, daß homosexuelle Beziehungen ausgesprochen zur <Mode> werden können, d. h. sich in verhältnismäßig kurzen Zeitspannen erheblich vermehren oder vermindern. Eine so starke biologische Variationsschwankung ist undenkbar, und die Frage, welche Faktoren jeweils bei einer hypothetisch angenommenen allgemeinen Bisexualität das eine oder das andere Geschlechtsverhalten aktualisieren, führt uns erst recht über die biologische Bedingtheit sofort hinaus. (Fs) (notabene)

76b Wir kommen in dieser Frage weiter, wenn wir uns dem Gedankengang anschließen, den Abram Kardiner in dem hochinteressanten Kapitel <The Flight from Masculinity> seines Buches über <Sexualität und Moral> (60 b, 164 ff.) entwickelt hat: Er unterscheidet als bestimmende Kräfte der homosexuellen Verhaltensprägung die Faktoren der individuellen Entwicklung und den Einfluß der Gesellschaft. Dabei ist ihm bewußt, daß bereits in der individuellen Entwicklung zahlreiche soziale Faktoren mitwirken: Der Einfluß der Familienstruktur, des Eltern-Kind-Verhältnisses, der Erziehungsdisziplinen und Erziehungsziele des Elternhauses, dessen sozialer Status usw. sind als soziale Einwirkung von der Entwicklung des Kindes nicht zu trennen; aber dessen Kontakt zur Struktur der Gesamtgesellschaft vollzieht sich in dieser Entwicklungsphase doch im wesentlichen innerhalb der familiären Situation. Unter den Einflüssen der Gesellschaft versteht Kardiner die Auswirkungen, die die außerfamiliäre soziale Umwelt auf das Geschlechtsverhalten ausübt, wenn das Individuum als Erwachsener oder Halberwachsener bei der Ablösung aus der kindlich=familiären Situation der gesamten Sozialordnung gegenübersteht und voll an ihr teilnimmt. (Fs)

77a Wir sind damit bei der Frage, die wir im vorigen Abschnitt noch zurückstellten: welche Faktoren denn die von uns so betont herausgestellte primäre <Sozialisierung> des Geschlechtstriebes, den Aufbau eines gegengeschlechtlichen Partnerverhältnisses, bestimmen oder jedenfalls erleichtern oder erschweren. Kardiner unterscheidet darin mit Recht zwei Phasen und Faktorengruppen: einmal die kindliche Entwicklungsphase mit vorwiegend familiär-sozialen Beeinflussungen, zweitens die beim Jugendlichen und darüber hinaus noch beim Älteren auftretenden unmittelbaren Auswirkungen der Sozialordnung und der sozialen Umwelt. Zweifellos liegt die Prägung des homosexuellen Verhaltenstypus bei denjenigen, die ausschließlich zu gleichgeschlechtlichen Beziehungen imstande sind - Kardiner nennt sie die <wahren Homosexuellem -, vorwiegend in der kindlichen Entwicklungsphase; dagegen sieht er, daß bei der großen Mehrheit der sowohl hetero- als auch homosexuelles Verhalten zeigenden Individuen - er spricht davon als der <homosexuellen Komponente bei Neurotikern> - der spätere Einfluß gesamtgesellschaftlicher Faktoren von größerer Bedeutung ist, als man bisher allgemein zugestand. Verursachende soziale Faktoren für die Entstehung homosexueller Haltungen sind also zunächst fast ausschließlich in der kindlichen Entwicklungsphase gefunden worden; es sind zumeist die psycho-sozialen Familienzusammenhänge, wie sie vor allem die Tiefenpsychologie entdeckt und beschrieben hat. Kardiner faßt die Ergebnisse der Analyse dieses Sektors folgendermaßen zusammen: <Im Falle des wahren Homosexuellen, dessen Angst vor der Frau sehr frühzeitig in seinem Leben geprägt ist, stellte man eine ungewöhnlich starke Bindung an die Mutter als deren Ursprung fest. Die Angst vor der Frau wurde durch eine verbotsbetonte Erziehung, durch die Ödipus-Situation und in vielen Fällen durch die dominierende Rolle der Mutter geschaffen. In anderen Fällen ist das Umgekehrte die Ursache: ein ungewöhnlich dominierender Vater und eine schwache, hilflose Mutter. In wieder anderen ist es der starke Haß auf die Mutter oder Stiefmutter und das Streben, vom Vater geliebt zu werden. In allen Fällen führt der Drang, sich die Liebe des gefürchteten oder bewunderten Vaters zu verschaffen, zum Aufgeben der Lusterwartungen von Seiten der Frau und zu ihrer Ersetzung durch Leidvorstellungen> (ebd., p. 182). Wir wollen diese von der psychoanalytischen Literatur breit behandelten Zusammenhänge hier dahingestellt sein lassen. (Fs)

78a Die Zusammenhänge zwischen homosexueller Haltung und sozialen Verhältnissen, die jenseits dieser kindlich-familiären Prägungsphase liegen, hat man nun bisher fast ausschließlich unter einem Gedankengang erforscht: daß die vorhandene homosexuelle Anlage und Betätigung die betreffenden Menschen zum Eingehen bestimmter sozialer Bindungen veranlaßt, d. h. es sind die sozialen Folgen der Homosexualität, ihr Einfluß auf die Gesamtgesellschaft, untersucht worden. Die umgekehrte These, daß die soziale Ordnung und Umwelt Ursache und Veranlassung homosexueller Geschlechtsbeziehungen bilden, und zwar vor allem bei jenen, die homo- und heterosexuelles Verhalten gleichzeitig zeigen, ist bisher weitgehend vernachlässigt worden; sie wird, wie wir sahen, von Kardiner, im deutschen Schrifttum vor allem von Bürger-Prinz vertreten, mit dem Ergebnis, daß sich viele soziale <Folgen> der Homosexualität bei genauerem Hinsehen in ihre <Ursachen> zu verwandeln beginnen, einer für alle praktischen Stellungnahmen zur Homosexualität außerordentlich wichtigen Wendung ihres Verständnisses. Teilen wir unsere Analyse der sozialen Faktoren der Homosexualität also zunächst schematisch in die zwei Themen: soziale Verhältnisse als Ursache der Homosexualität einerseits und Vergesellschaftungen als Folge dieser sexuellen Haltung andererseits; auf die typisch sozialwissenschaftliche Schwierigkeit, daß im sozialen Bereich diese Gegenüberstellung nicht bis aufs letzte durchzuhalten ist, da in ihm immer ursprüngliche Ursachen und Folgen funktionell in Wechselwirkung zu treten pflegen, sei hier nur vorläufig hingewiesen. (Fs)

78b Der gemeinsame Grundgedanke aller Thesen, daß soziale Verhältnisse den jugendlichen oder auch älteren Menschen in der Verfehlung der gegengeschlechtlichen Partnerbeziehung bestimmen oder beeinflussen können, liegt in der Einsicht, daß die soziale Umwelt an der Bestimmung und Aufrechterhaltung des Verhaltensnormgefüges jedes einzelnen ständig beteiligt ist, auch an der bis in das Sexuelle reichenden Stilisierung und Behauptung der Rolle als Mann oder als Frau. Überall, wo die Gesellschaft dieses Normgefüge und diese geschlechtliche Rollenverteilung, auch auf ganz unsexuellen Lebensgebieten, ihrerseits in Frage stellt oder in den Zuordnungen entscheidend verändert, beeinflußt sie die im Aufbau des Partnerverhältnisses zu leistende primäre <Sozialisierung> der Geschlechtsbeziehung des in die außerfamiliäre Umwelt hinaustretenden Jugendlichen und ihre Stabilität im Verlauf seines Lebens. Zur Diskussion steht also recht eigentlich die Auswirkung aller außerfamiliären Sozialstrukturen auf das sexuelle Normgefüge. In Richtung einer homosexuellen Verfehlung der gegengeschlechtlichen Partnerbeziehung scheinen uns nun in der Gegenwart vor allem vier soziale Konstellationen und Zusammenhänge zu wirken:

[...]

83b 4. Die Schwierigkeit der Mann-Rolle in der modernen Gesellschaft: Schließlich ist zu fragen, ob nicht die Struktur der modernen indu» strieLUbürokratischen Gesellschaft selbst Schwierigkeiten für die Ausbildung einer angemessenen heterosexuellen Partnerbildung in sich trägt. Während wir bisher vor allem den sozialen Verhältnissen nachgingen, die ein Verfehlen der gegengeschlechtlichen sexuellen Bindung durch soziale Abdrängung von der Frau oder durch allgemeine Normensenkung und Normverluste verursachten, müssen wir jetzt unser Augenmerk einmal darauf richten, daß es auch soziale Faktoren geben kann, die vom Ergreifen der normalen gesellschaftlichen Mann-Rolle abhalten, die ja auch immer das Eingehen heterosexueller Geschlechtsbeziehungen in sich schließt. Es ist die Hauptthese Kardiners in der Erklärung der sozial bedingten Homosexualität, daß die Chancen der <Männlichkeit> in der modernen Gesellschaft zu gering oder ihre Behauptung jedenfalls für viele zu schwer geworden sind, so daß eine <Flucht vor der Männlichkeit> auch in der sexuellen Rolle eintritt. Als Begründung dafür, daß diese <Männlichkeit> heutzutage so schwer zu entwickeln oder zu behaupten ist, führt er die ständigen wirtschaftlichen Depressionen, Arbeitslosigkeiten, Kriege und Kriegsängste an; dazu kommen die hochgeschraubten Ansprüche auf Lebenserfolg im Beruflichen, die harte Konkurrenzsituation in der westlichen Wirtschaftsordnung und schließlich nicht zuletzt die Tatsache, daß die Frau selbst auf der einen Seite als Mitbewerber und Gleichberechtigte im beruflichen Dasein auftritt, auf der anderen Seite aber als Herrscherin der Konsum-Ansprüche hohe Anforderungen an die Lebenstüchtigkeit und Durchsetzungskraft des Mannes stellt. So gibt es viele, die sich den Erwartungen, die die soziale Rolle des Mannes heute an sie stellt, nicht gewachsen sehen und in ihrem Sexualverhalten in eine schutzsuchende Rolle ausweichen: <Für diese Männer haben die hohen Ansprüche des Wettbewerbs und des Erfolgs ihre Verpflichtungen zur Männlichkeit zu einer Last werden lassen. Diese Art Mann kann von der Frau keine Behaglichkeit oder Beistand erwarten, weil sie eine Bedrohung für ihn ist, keinen Trost, weil sie von ihm erwartet, männlich zu sein> (ebd. S. 175). (Fs)

84a Man muß diesen Faktoren, die zur Angst vor der Mann-Rolle in unserer Gesellschaft und zu ihrer Ablehnung führen, noch ihre mangelnde Ausgeprägtheit, ja ihre Nivellierung gegenüber der Frauen-Rolle als eine in gleicher Richtung wirkende Sozialstruktur an die Seite stellen. Die wachsende Geschlechtsneutralität unserer Arbeitsbedingungen, unseres öffentlichen und kulturellen Lebens, die nur zum Teil Folge der weiblichen sozialen Emanzipation, zumeist eine Konsequenz der Entwicklung unserer technischen und organisatorischen Produktionsbedingungen ist, diese entpersönlichende Versachlichung und Funktionshaftigkeit unseres modernen Daseins, läßt einen für alle Männer verbindlichen und zugänglichen Standard männlichen Verhaltens immer unklarer und unsicherer werden; das <Männliche> wird in immer willkürlichere und subjektivere Seiten der Personformierung abgedrängt und verliert seine soziale Bedeutsamkeit in unserer Gesellschaft1. Am eindringlichsten ist dies in letzter Zeit in der Wandlung der Vater-Rolle gezeigt worden: besonders E. Michel hat immer wieder darauf hingewiesen, daß der Mann als funktionalisierter Leistungsträger abstrakt arbeitsteiliger Berufsaufgaben wesentliche Grundlagen seiner persönlichen Autorität in der Familie und gegenüber dem anderen Geschlecht verliert und weitgehend nicht mehr die eigentlich väterliche Erziehungs- und Prägeleistung, den Kindern und der Gesamtfamilie den Zugang zur sozialen Umwelt und Ordnung zu öffnen, erfüllen kann (31 b; vgl. auch M. Horkheimer 58). Zweifellos trägt dieses <radikale Schwinden der sozialen Voraussetzungen der Vaterschaft> zur Erschwerung stabiler heterosexueller Partnerverhältnisse bei Jugendlichen bei, und sei es nur durch die Steigerung der Dominanz, die dadurch das Mütterliche in der Intimstruktur der Familie gewonnen hat. - (Fs)

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