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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Abnormalität - Gesellschaft; das Soziale: nicht nur Orientierungssystem, sondern Ermöglichung neuer personaler Möglichkeiten; Abnorme (Norm) - höhere Seinsformen einer Gesellschaft

Kurzinhalt: ... während umgekehrt die Toleranz gegenüber dem Abnormen ... mit der Erniedrigung und dem Verfall persönlicher und sozialer Seinsmöglichkeiten zusammenhängen,

Textausschnitt: 3. Die Abnormen und die Gesellschaft

59a Die Erkenntnis, in welchem Ausmaß die Normen des geschlechtlichen Verhaltens sozial bestimmt und anthropologisch und gesellschaftlich notwendig sind, erfährt ihre <Feuerprobe> in der sozial-wissenschaftlichen Deutung der Anomalien des geschlechtlichen Verhaltens. Die populär naturwissenschaftliche Ansicht, daß hier im wesentlichen doch <Unnatürlichkeiten>, d. h. biologische Krankheitserscheinungen vorliegen, kann nach der Einsicht in die Doppeldeutigkeit des Begriffes des <Natürlichen> im sexuellen Verhalten nicht mehr befriedigen. So ist Kinsey dem umgekehrten Trend gefolgt, der das anormale Verhalten als solches vor allem von der sozialen Normsetzung her verstanden wissen will. Auch Marg. Mead (23 b, p. 96) kennzeichnet den <Anomalen> (<deviant>) als <das Individuum, dessen angeborene Veranlagung für die soziale Persönlichkeit, die seine Kultur ihm für sein Alter, sein Geschlecht oder seine Kaste vorschreibt, allzu abwegig ist, als daß das Kleid der Persönlichkeit, das seine Gesellschaft für ihn geschneidert hat, ihm wirklich paßt>. Damit wird eine weitgehende Plastizität der sexuellen Veranlagung angenommen, wie es ja schon in der Libido=Konzeption Freuds der Fall ist (<Der Mensch ist polymorph pervers geboren>), und die Prägung des sexuellen Verhaltens dem sozialen und kulturellen Normsystem der Gesellschaft zugeschrieben. Die Abnormitäten treten dann dort auf, wo ein spezifisches soziales Normensystem nicht hinreicht oder gar zu eng und zu starr ist, um alle biologischen Veranlagungen seinen sozialen Verhaltensmustern und Zielen einzuordnen; man kann sagen, daß jede Gesellschaft sich durch ihre soziale Normsetzung des natürlichen Sexualverhaltens> ihre Abnormen selbst schafft. (Fs)

59b In der psychoanalytischen Lehre Freuds ist dieser soziale Normeinfluß auf die Formierung der Sexualität in der Rolle und Bedeutung grundsätzlich erkannt, die er der <Zensur> und dem <Über=Ich> zuschreibt; während er jedoch, in den Ansichten des kulturellen Evolutionismus des 19. Jahrhunderts befangen, die sich aus dem Widerspiel von Triebstruktur und kulturellem <Überbau> der Moralanforderungen ergebenden psychischen Mechanismen für universal menschlich hielt und so eine naturwissenschaftliche Lehre der <Abnormitäten> und Krankheitserscheinungen schlechthin zu geben glaubte, ist die von Freud ausgehende neuere psycho=soziologische oder die ihn aufnehmende ethno=soziologische Forschung durch die Methoden des Kultur- und Gesellschaftsvergleiches zu der Feststellung gekommen, daß die Verhaltensgrundlagen und Triebformierungen viel stärker durch das jeweilige kulturelle Norm- und Institutionsgefüge differenziert und bedingt werden. So haben uns Malinowski, Marg. Mead und Ruth Benedict den prägenden Einfluß des gesamten Kulturgefüges auf alle Verhaltensweisen, insbesondere auch auf die Rolle der Geschlechter und das sexuelle Verhalten, an ihren Deutungen der Sozialstruktur der Südseevölker, der Indianer usw. sehen gelehrt (vgl. 76, 23, 8); systematisch hat der Psychiater und Psycho-Soziologe Abram Kardiner (60) daraus seine Lehre von der <Basispersönlichkeit> der jeweiligen Kultur entwickelt, dem Einfluß der Grundwerte und -institutionen einer Kultur auf die Formierung und Fixierung der Antriebsstrukturen in der frühen Kindheit; die Neoanalyse, z. B. Karen Horney (59), weist die starke Abhängigkeit seelischer Krankheitserscheinungen von der sozialgeschichtlich und in den Kulturen wechselnden gesellschaftlichen Situation der Menschen nach und erweitert bewußt die Freudsche Lehre in das Soziologische, und die Einsicht in diesen Zusammenhang schlägt bei der tiefenpsychologischen Sozialpsychologie, etwa bei E. Fromm (53), F. Alexander (44), J. C. Flügel (49) u. a. sogar in den Versuch um, aus diesen Spannungen zwischen der Breite biologisch-ursprünglicher Antriebsrichtungen und ihren mehr oder minder gelungenen sozialen Formierungen das historische und politische Geschehen einer Gesellschaft selbst zu erklären. (Fs)
60a Alle diese Lehren haben zweifellos die psycho-soziologischen Wechselwirkungen in der Trieb- und Persönlichkeitsformierung aufgedeckt, sie haben uns das System der sozialen Normen und Institutionen als ein Prägungs- und Führungssystem gegenüber der Antriebs- und Motivationsstruktur der Menschen sehen gelehrt. Psychologische und soziologische Betrachtungsweise scheinen in ihnen vollkommen zur Deckung gekommen zu sein. In diesen Lehren geraten die Abnormen in die Position von Gruppen, die sich zwar innerhalb der <normalen> psychobiologischen Veranlagungsbreite befinden, durch bestimmte Kulturansprüche und kulturell gesetzte Dilemmen aber in Leistungs- und Verhaltensunfähigkeiten und damit in Anomalie und Krankheit gedrängt werden. Die Sozialverfassung wird als verursachender Faktor der Krankheit entdeckt, wie umgekehrt psychische Gesundheit wesentlich in der Einordnung und Leistungsfähigkeit gegenüber den Verhaltensgrundansprüchen der Gesellschaft gesehen wird. So weit entsprechen diese Ansichten durchaus den von uns bisher entwickelten Zusammenhängen. (Fs) (notabene)

61a Aber bei aller Liebe und Anerkennung, die neuerdings Psychologie und Psychiatrie der Soziologie entgegenbringen, gerät diese doch unversehens in die Gefahr, dabei in ihren wesentlichen Aussagen überspielt zu werden. Die Psychologie arbeitet hier mit der Grundannahme, daß die für sie erkennbaren und wesentlichen Wirklichkeiten identisch sind mit jenen, die die Soziologie festzustellen hat. Dieses Postulat erscheint uns zweifelhaft. (Daß die moderne Psychologie eine ähnliche Identitätspostulierung ihres Gegenstandes auch gegenüber der Biologie vornimmt, kann uns bei unserer Fragestellung nicht interessieren, obwohl auch hier am deutlichsten an der Diagnose <abnormer Verhaltensweisen nachgewiesen werden könnte, daß eine volle Kongruenz ebenfalls nicht vorhanden ist.) Für eine fruchtbare soziologische Deutung menschlicher Verhaltensweisen scheint uns sogar die umgekehrte Prämisse erforderlich zu sein: Erst die Frage nach den Grenzen psychologischer Gesetzlichkeiten und Einsichten enthüllt das Soziale und die von ihm ausgehenden Verhaltensformierungen in ihrer Eigenart. Diesen Aspekt wollen wir an der Rolle der Abnormen in der Gesellschaft zu verdeutlichen versuchen. (Fs)

62a Diese Einsicht macht uns auch den zweiten Gedankengang verständlich, mit dem wir zu unserem Ausgangspunkt, der Frage nach der Rolle der Abnormen in der Gesellschaft, zurückkehren: Indem der Mensch durch die Verselbständigung, man kann auch sagen, durch die Entfremdung seiner Antriebe ins Institutionelle sich der Subjektivität seiner Triebe und seiner Konstitution entzieht, wird er überhaupt erst zum Träger sozialer und kultureller Ordnungen und erschließt sich selbst die höheren Seinsweisen, in denen sein leiblich-seelisches Dasein aufgeht in der Sache, die er vertritt, in seinen Schöpfungen, in der Erfüllung der Aufgaben des Geistes, des Glaubens, der Gerechtigkeit und der Liebe. Das <normgerechte> Verhalten, die Moral, hätte in sich keinen Wert, wenn sie nicht eben diese höheren Seinsformen des Menschen sowohl als Person wie als Gesellschaft erst ermöglichte; dieser Zusammenhang von Moral und Freiheit der Person oder dauerhafter Ordnung der Gesellschaft ist von der tiefsinnigen Philosophie immer gesehen worden. Die Abnormen sind also nicht durch eine gleichsam willkürliche Normsetzung der Gesellschaft nur in der öffentlichen Meinung und im Sozialbewußtsein zu einer Außenseiterrolle verdammt worden, sondern das Normverdikt ist die Feststellung einer Kultur, daß diese Gruppen die in der jeweiligen Kultur oder dem jeweiligen Sozialgefüge angelegten höheren Seinsformen der Person oder der Gesellschaft zu erreichen nicht fähig sind. Mit der Erhöhung und Differenzierung institutionalisierter persönlicher und sozialer Seins- und Verhaltensebenen wächst also die Rigorosität der Moral und verschärft sich die moralische Ausschließung derer, die zu diesen Seinsformen unfähig sind, während umgekehrt die Toleranz gegenüber dem Abnormen, die Aufweichung der moralischen Konturen mit der Erniedrigung und dem Verfall persönlicher und sozialer Seinsmöglichkeiten zusammenhängen, was uns jede Gegenwartsdiagnose lehren könnte. Daß mit dem Auftauchen neuer, überhöhender Seinsmöglichkeiten des Menschen sich auch neue, rigorosere Moralsysteme entfalten müssen, dafür ist die geschichtliche Wirkung des Christentums wohl das für uns sinnfälligste Beispiel (vgl. S. 34). (Fs) (notabene)

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