Autor: Schelsky, Helmut Buch: Soziologie der Sexualität Titel: Soziologie der Sexualität Stichwort: Kinsey-Report; neue Norm: Anerkennung des Faktischen; Ehebruch - Statistik Kurzinhalt: ... man darf nicht übersehen, daß mit der Einebnung des Unterschiedes zwischen Norm und Faktizität im Geschlechtsverhalten nur die moralischen, religiösen ... Motive ihre Existenz verlieren und die <Anpassung> eben nur in der Form ... Textausschnitt: 54a Wir wollen diesen Widerspruch zwischen den sexuellen Normen und Werturteilen auf der einen und der sexuellen Verhaltenswirklichkeit auf der anderen Seite sowie die unterschiedlichen Motivierungen, mit denen das soziale Bewußtsein seine jeweilige Stellungnahme zu diesem Widerspruch rechtfertigt, noch einmal am Beispiel der vorehelichen Keuschheit bzw. des vorehelichen Geschlechtsverkehrs verdeutlichen. Über dessen tatsächliche Verbreitung sind wir durch Kinsey und andere ziemlich sicher informiert:
[...]
55a Aus den Untersuchungen Gorers gehen nun auch außerordentlich klar die Motive oder wenigstens die intellektuellen Deutungen für die jeweilige moralische Stellungnahme zur vorehelichen Keuschheit hervor: Ihre Befürworter führen ganz eindeutig nur moralische und religiöse Argumente oder Begründungen der Menschenwürde für ihre Stellungnahme an, während sie biologisch-materielle Motive oder sogenannte praktische Überlegungen kaum äußern; bei den Befürwortern des vorehelichen Geschlechtsverkehrs finden wir dagegen das ganze Arsenal der popularisierten, vulgär gewordenen Psychologie und Psychiatrie und die Argumente der biologischen Gesundheit als sekundäre Rationalisierungen ihrer Stellungnahme vor. Man mag diese Unterschiede in der Beziehung zwischen Werturteilen und faktischem Sexualverhalten in der deutschen und englischen Gesellschaft mit dem typisch englischen <cant> (Scheinheiligkeit) erklären, man mag ihn als <Verlogenheit> bezeichnen (und damit auf die Seite der naturalistischen <Moral> treten), aber man darf nicht übersehen, daß mit der Einebnung des Unterschiedes zwischen Norm und Faktizität im Geschlechtsverhalten nur die moralischen, religiösen, auf Menschenwürde ausgehenden Motive ihre Existenz verlieren und die <Anpassung> eben nur in der Form einer Anerkennung des einmal Faktischen bestehen kann, die sich dann vulgär=wissenschaftlich rechtfertigt. Genau in dieser Richtung wirkt sich der <normative> Anspruch der Kinsey=Reporte aus. (Fs)
55b Einen gleichen Vorgang können wir in ihrem Einfluß auf die Stellungnahme zur ehelichen Treue beobachten. Wir sahen S. 33 ff, daß die Entwicklung der Monogamie in der abendländischen Kulturtradition in dem Ideal einer unbedingten ehelichen Treue gipfelte und daß selbst im Ehebruch noch das Motiv, den schicksalshart einzigen Liebespartner anzutreffen, wirksam blieb. Auf der Grundlage dieser strengen monogamen Verpflichtung blieb daher die eheliche Untreue bisher ein jeweils individueller Akt, dessen Verständnis - Verzeihung oder Verdammung - von den Beteiligten jeweils in einer personenhaften Beziehung der Ehepartner, in einer intimen gegenseitigen moralischen und sich wenigstens in einem Verpflichtungsgefühl personal eins wissenden Auseinandersetzung gewonnen werden mußte. Die von Kinsey in das Allgemeinbewußtsein erhobene Statistik des Ehebruchs konfrontiert aber mit einem ganz anderen Tatbestand; wir wollen dies an einer Zeitungsmeldung verdeutlichen: <Ein amerikanischer Armeepfarrer, der soeben aus Korea zurückgekehrt ist, hat festgestellt, daß Professor Kinseys Untersuchung über das Geschlechtsleben der Frau unter den Soldaten in Fernost eine verheerende Wirkung gehabt habe. Keine kommunistische Propaganda könne so demoralisierend wirken wie die Behauptung, daß jede vierte Frau ihrem Manne untreu sei.> Hier bewirkt also eine bloß statistische Angabe offensichtlich eine ihrem Inhalt kritiklos entsprechende Interpretation der eigenen Situation und eliminiert aus dieser die ihr wesentliche Grundlage personenhafter Bindung; ich finde diese Form der Selbstdeutung fast noch unmoralischer als den Ehebruch selbst, weil die aus ihr sprechende Beziehung zum Ehepartner bereits so entpersönlicht ist, daß berechtigte Eifersucht oder Schuldgefühl demgegenüber noch als wünschenswerte Personbindungen erscheinen können. (Fs)
56a Diese Selbstdeutung auf Grund einer Statistik ist allerdings nur verständlich im Zusammenhang mit der außerordentlichen Unsicherheit im ehelichen und familiären Verhalten, die wir in der nordamerikanischen Bevölkerung beobachten müssen; auf sie spekuliert ja auch die Publizität der Kinsey-Berichte. Diese von allen Berichterstattern bezeugte hohe Ratlosigkeit und Unsicherheit der Amerikaner in der Partnerwahl, in der Eheführung, Kindererziehung usw. hat verschiedene Ursachen: Der generationshafte Zusammenhang und die Autorität der Eltern zur Prägung und Erhaltung familiärer Verhaltenskonstanten sind durch die starke räumliche Trennung und Mobilität der Familien weitgehend zerrissen und abgeschwächt, vor allem aber durch die Völkermischung der Einwanderungsgesellschaft außer Kraft gesetzt. Es gibt kaum noch in sich homogene Heiratsgruppen in den USA; indem die sozial verschiedenartigsten Menschen mit den unterschiedlichsten Resttraditionen familiärer Verhaltensvorstellungen einander heiraten, gibt es keine Kontinuität einer verbindlichen Norm und damit keine vererbte Sicherheit auf diesem Lebensgebiet. Marg. Mead hat darauf hingewiesen, daß in einer Gesellschaft, in der das <natürliche> Verhalten zwischen den Geschlechtern groß geschrieben würde, im Grunde niemand mehr wisse, was eigentlich <natürlich> sei, und sagt mit Recht: Wir betonen immer die Wichtigkeit der Anpassung und verlieren dabei immer mehr die Fähigkeiten, die zur Anpassung führen. In ähnlicher Weise wirkt vor allem noch der allgemeine soziale Aufstiegsdrang, insbesondere der Eingewanderten: es läßt sich nachweisen, daß bei den Aufstiegsfamilien, also der Majorität der typischen middle=class=Bevölkerung, die Autorität und Tradition der Eltern minimal ist, ja, daß geradezu der Grundsatz gilt: Es kann alles richtig sein - nur so, wie unsere Eltern es getan haben, war es bestimmt falsch. (Fs)
57a Dem aus dieser Lage stammenden Mangel an Verhaltensmaßstäben und -Vorbildern sucht man nun auch im privaten Bereich der Partnerwahl, Eheführung, Elternschaft und natürlich erst recht des Geschlechtsverhaltens durch wissenschaftliche Planung und Einsicht abzuhelfen. Auf ausdrücklichen Wunsch der Jugend sind in den meisten amerikanischen Hochschulen daher Kurse über rechte Partnerwahl, richtige Kindererziehung, <marital happiness> usw. eingerichtet worden, die sich durch ihre hohe Besucherzahl fast als das amerikanische Studium Generale ausweisen. Die Folgen dieser Wissenschaftsgläubigkeit werden oft genug geschildert: Jede wissenschaftliche Mode der Kinderpflege hat breite Auswirkungen auf das Verhalten der Eltern, es gibt schnell wechselnde, sich auf psychologische Erkenntnisse berufende Moden des Partnerverhaltens in der Ehe usw. Das heißt doch, daß die Pseudo-Führung der Wissenschaft im intimen und personalen Bereich nur die Unsicherheit und Diskontinuität des Verhaltens steigert. Auf dieser Grundlage ist die erschütternde und verderbliche Wirkung der Kinsey=Reporte gar nicht zu unterschätzen: Genau so wie die Soldaten in Korea werden Tausende von Frauen jetzt die ehelichen Schwierigkeiten, die sie sonst vielleicht noch als relativ selbstverständliches Eheschicksal hingenommen und getragen hätten, im Lichte der Statistiken der Kinsey-Reporte interpretieren und nun endlich wissen, <was in ihrer Ehe anders sein könnte oder müßte>. Nach der Psychologisierung der Selbstdeutungen scheinen Zoologie und Statistik als Medien des menschlichen Selbstverständnisses an der Reihe zu sein. Aber auch diese Wissenschaften werden, im Glauben, die Konflikte einer veralteten Moral zu beseitigen, nur neue schaffen, zu deren Meisterung uns dann kaum noch ein moralischer Ansatz zur Verfügung steht. (Fs)
57b Aber was nützt denn, so könnte man einwenden, eine Sexualmoral, wenn sie zwar echte moralische Maßstäbe aufrechterhält, praktisch aber so wenig wirksam ist, daß das faktische Geschlechtsverhalten davon kaum beeinflußt wird? Wenn Kinsey sieht, daß der sexuelle Habitus der nordamerikanischen Bevölkerung und die noch vorhandenen Sittenanschauungen oder gar strafrechtlichen Regelungen inzwischen so stark auseinanderklaffen, daß daraus ständige soziale, seelische und rechtliche Konflikte entstehen, ist es dann nicht berechtigt, nach einer neuen Sexualmoral zu rufen und zu suchen, die dem tatsächlichen Verhalten nicht so wirklichkeitsfremd und daher ein« flußlos gegenübersteht? Nun, auch wir würden von unserem Standpunkt diese Absicht und die Möglichkeit des Wandels der Sexualmoral nicht verneinen; gerade weil die sexuellen Normen primär soziale Gestaltungen sind, unterliegen sie natürlich auch der geschichtlichen und gesellschaftlichen Veränderung in den Wandlungen der gesamten Gesellschaftsstruktur, was sich in strafrechtlichen Reformen usw. ausdrückt. Was wir ablehnen, ist nur die Methode Kinseys und seiner Parteigänger, die Sexualmoral so ändern zu wollen, daß man die biologische Faktizität zur Norm oder zum Richtmaß erhebt; damit ist zwar der Konflikt zwischen Moral und Triebtendenzen am leichtesten und vollkommensten gelöst, aber eben auf Kosten der Moral und mit Aussicht auf neue Konflikte. (Fs)
58a Was Kinsey übersieht und mit seiner Methode, nur sozialstatistische Tatsachen zu erheben, vielleicht auch gar nicht bemerken kann, ist der Umstand, daß in dem Konflikt zwischen faktischem Sexualverhalten und moralischen Anschauungen ja nicht nur die sexuellen Normen die Variable bilden, sondern in den entstehenden Spannungen die Sexualität auch variabel und daher anpassungsfähig ist. Ein geändertes Verhältnis zwischen beiden ist also nicht nur vom Wandel der Sexualmoral, sondern vielleicht mehr noch von der Veränderung der Rolle der Sexualität in der Gesellschaft im Zusammenhang mit dem geschichtlichen Wandel der gesamtkulturellen Struktur und Verhaltensweise zu erwarten. Wir sahen (vgl. S. 37 f.), daß in den umwälzenden Geschehnissen der deutschen Gesellschaft ein Zurücktreten der Sexualität in ihrer persönlichen und gesellschaftlichen Bedeutung bereits zutage trat, und können von dort her vielleicht auch verstehen, weshalb die Kinsey=Berichte in Deutschland kein vitales Interesse erweckten, sondern sich höchstens als interessanter Lesestoff erwiesen. Nun schafft allerdings ein Abbau der Rolle der Erotik, wie wir ihn diagnostizierten, keineswegs unmittelbar eine neue und höhere Sexualmoral, bietet aber vielleicht langfristig der Durchsetzung strengerer sexueller Normen durchaus eine neue Chance. Ich halte es nicht für unmöglich, daß die heranwachsende Generation einmal wieder prüde wird. Vor allem aber scheinen uns diese Einsichten zu zeigen, von welchen Tiefenschichten des Gesamtverhaltens her überhaupt Änderungen des Verhältnisses von Moral und faktischem Sexualverhalten zu erwarten sind. Die sexualmoralisehe Problematik der Kinsey-Berichte könnte sich also als eine Sorge erweisen, die an den Bestand einer spezifisch spätbürgerlichen Gesellschaftsverfassung gebunden ist und mit ihr vergeht. (Fs)
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