Autor: Schelsky, Helmut Buch: Soziologie der Sexualität Titel: Soziologie der Sexualität Stichwort: Ehe als soziale Regulierung der Geschlechtsbeziehungen; Formen der Ehe; kulturformende Kraft -> Einehe; Entsexualisierung durch Monopolisierung der Geschlechtlichkeit; Polygamie, Monogamie: gemäßigt, absolut
Kurzinhalt: Sicherlich erklärt sich auch hieraus, weshalb bei den großen Kulturvölkern, ... die stärkste soziale und politische Energiefülle und Formkraft, ihr weltgeschichtliches Ausgriffsvermögen, mit dem Zustand der strengen Einehe zusammenfallen.
Textausschnitt: 2.Die Ehe als soziale Regulierung der Geschlechtsbeziehungen
30a Die Ehe braucht daher keineswegs im Sinne einer Ausschließlichkeit der Geschlechtsbeziehungen auf die Ehepartner institutionalisiert zu sein, sondern Sitte und Gesetz oder wenigstens soziale Duldung können nebenehelichen Geschlechtsverkehr gestatten, zuweilen sogar gebieten. In zahlreichen Gesellschaften ist dies für den verheirateten Mann der Fall, aber es gibt solche Regelungen auch für die verheiratete Frau, sei es, daß ihr außerehelicher Verkehr überhaupt oder wenigstens mit ihrer Altersklasse gestattet ist, ein Tatbestand, der lange als sogenannte <Gruppenehe> verkannt worden ist, sei es, daß er ihr in der Form von Gastrechten, Herrenrechten, religiöser <Tempelprostitution> usw. sogar geboten wird. Zweifellos liegt nun aber in der Freistellung sexueller Beziehungen außerhalb der Ehe immer die Möglichkeit einer Störung oder Gefährdung der in der Ehe und Familie institutionalisierten nichtsexuellen, z. B. ökonomischen oder den Erbgang und sozialen Status betreffenden Tatbestände und Verhaltensformen; die Ehe und Familie als Institution wird daher in allen in sozialer Fortentwicklung befindlichen Gesellschaften, und zwar primär gerade aus nichtsexuellen Bedürfnissen heraus, die Tendenz entwickeln müssen, die Geschlechtsbeziehungen der Ehepartner zu monopolisieren oder wenigstens die außerehelichen unter ihre Kontrolle zu bringen. In dieser Tendenz übernimmt die Ehe die wichtige Funktion der Entsexualisierung der anderen Bereiche und Institutionen des gesellschaftlichen Lebens, in denen bei gelungener ehelicher Monopolisierung der Geschlechtsbeziehungen andere Antriebsenergien in höherem Maße entfaltet, bzw. die in ihnen verbliebenen sexuellen Triebkräfte vollständiger auf nicht-sexuelle Ziele abgelenkt werden können und müssen. Sicherlich erklärt sich auch hieraus, weshalb bei den großen Kulturvölkern, den Sumerern, Babyloniern, Griechen, Römern, Germanen usw. die stärkste soziale und politische Energiefülle und Formkraft, ihr weltgeschichtliches Ausgriffsvermögen, mit dem Zustand der strengen Einehe zusammenfallen. (Fs) (notabene)
30b Wie die aus der vergleichenden Völkerkunde und Gesellschaftswissenschaft bekannten Eheformen diese eheliche Monopolisierung der Geschlechtsbeziehungen in sehr verschiedenem Maße beanspruchen und leisten, so institutionalisieren sie auch die ehelichen sexuellen Chancen in sehr unterschiedlichem Ausmaß und in durchaus ungleicher Verteilung auf die Partner; sehen wir einmal davon ab, daß die verschiedenen Verfassungen der Ehe in ihrem Ursprung, ihrer Struktur und ihrem Bestand wesentlich von außersexuellen, meist wirtschaftlichen und produktionstechnischen oder auch herrschaftspolitischen Zuständen der Gesellschaft her bestimmt sind und getragen werden, und rangieren wir die wichtigsten Eheformen unter dem Gesichtspunkt der ehelich institutionalisierten sexuellen Freiheit oder Gebundenheit der Partner, so kommen wir zu folgender Reihenfolge:
a) gemäßigte Polygamie: der Mann kann mehr als eine Ehefrau zu gleicher Zeit haben, die Frauen können ihren Ehegatten gemäß den in Sitte oder Gesetz festgelegten Regeln verlassen, weder Mann noch Frau sind geschlechtlich während ihres ganzen Lebens aufeinander angewiesen;
b) absolute Polygamie: die Frau ist gezwungen, ihre geschlechtlichen Beziehungen während ihres ganzen Lebens ausschließlich ihrem Ehemann zuzuwenden, während er noch andere eheliche Geschlechtspartner haben kann;
c) gemäßigte Monogamie: es ist nur ein Geschlechtspartner erlaubt, von denen aber jeder die Verbindung nach den geltenden Sitten und Gesetzen lösen kann, besonders wenn es sich um einen dauerhaften Wechsel des Partners handelt (Scheidung);
d) absolute Monogamie: Einehe, bei der die Frau unter strenger Strafe oder bei sonstigen Sanktionen ihr Leben lang geschlechtlich an ihren Ehepartner gebunden ist und das gleiche von ihm in dem Maße erwartet wird, wie seine Gattin diesen sozialen Erwartungen entspricht (nach Unwin, 38, p.342 f). (Fs)
31a Fast alle Eheformen geben also dem Manne eine höhere sexuelle Freiheit und Chance in der Ehe als der Frau; der Grund dafür ist wohl vor allem darin zu suchen, daß die nebenehelichen sexuellen Beziehungen des Mannes für den Bestand der Ehe und Familie und damit auch für die Grundordnungen des gesamtgesellschaftlichen Gefüges folgenloser sind als die der Frau, eine Tatsache, die erst durch die modernsten Entwicklungen einer verbreiteten Empfängnisverhütung und der weitgehenden Privatisierung der Familie, die in der bürokratisierten Gesellschaft nicht mehr <Grundlage des Staates> ist, an sozialem Gewicht und daher an Überzeugungskraft ein» gebüßt hat. Schließlich soll nicht verkannt sein, daß auch die herrschaftspolitische Struktur oder sonstige Funktionsteilungen zwischen den Geschlechtern für die größere sexuelle Freiheit des Mannes eine Rolle spielen. Im übrigen hängt die Häufigkeit des nebenehelichen Geschlechtsverkehrs für beide Partner jenseits der offiziellen Eheverfassung jeweils davon ab, in welchem Maße Ehebruch in einer Gesellschaft bestraft oder sozial diskriminiert wird. (Fs)
32a Die nebenehelichen sexuellen Chancen des Mannes bestehen bei einer wachsenden sexuellen Gebundenheit der verheirateten Frau in der Ehe vor allem in einer vorehelichen geschlechtlichen Freiheit der Frau; diese zu beschränken hat aber die Familie ein Interesse, weil sie damit eine größere Verfügung über die Tochter zu Gunsten ihrer wirtschaftlichen, sozialkooperativen oder machtpolitischen Familienziele, die sie mit einer Verheiratung der Tochter verbindet, behält und so das Risiko der familiären Lasten einer möglicherweise aus diesen Geschlechtsbeziehungen erwachsenden Nachwuchsfürsorge vermeidet. Während die vorehelichen Sexualregulationen, soweit sie eine Enthaltsamkeit des Mannes vom Geschlechtsverkehr fordern, dies zumeist tun, um seine Interessen und Energien auf andere als familiäre Tatbestände und Aufgaben der Gesellschaft zu konzentrieren und die Macht der Familie gerade zu brechen (Männerbünde, religiöse, kriegerische, sportliche Enthaltsamkeit usw.), ist die voreheliche geschlechtliche Enthaltsamkeit der Frau stets von ihrer zukünftigen Ehelichkeit und Familienhaftigkeit her bestimmt. Wir können diese vorehelichen Regelungen des Geschlechtsverkehrs nach dem Grad der in ihnen geforderten Enthaltsamkeit in folgende Gruppen einteilen:
a) Sexuelle Freiheit: Mann und Frau sind in ihrem vorehelichen Verhalten völlig frei zu beliebigem Geschlechtsverkehr. (Fs)
b) Teilweise geschlechtliche Enthaltsamkeit: die sexuellen Möglichkeiten werden für beide Geschlechter, vor allem aber für die Frau, auf den zukünftigen Ehepartner beschränkt; eine Verpflichtung beider Partner zum Eheschluß wird durch einen sozialen Akt, die Verlobung, gefordert. Eine andere Form, zu teilweiser geschlechtlicher Enthaltsamkeit vor der Ehe zu zwingen, besteht darin, daß eine Gesellschaft zwar den vorehelichen Geschlechtsverkehr freisetzt oder duldet, aber die voreheliche Schwangerschaft oder Mutterschaft sozial ächtet und den Erzeuger ökonomisch belastet oder gar bestraft; auch in diesem Falle ist die Frau durchschnittlich stärker zur Enthaltsamkeit genötigt als der Mann. (Fs)
c) Voreheliche Keuschheit: eine Gesellschaft, die ernsthaft auf völliger vorehelicher Enthaltsamkeit besteht, führt dies meist nur in bezug auf die Frau durch, zuweilen übrigens verbunden mit einer symbolischen Prüfung oder Demonstration, daß die Braut in der Hochzeitsnacht noch Jungfrau war (Auslegung der Brautlaken usw.). (Fs)
32a Ein völkerkundlicher Vergleich zeigt, daß jede dieser Stufen vorehelicher Freiheit oder Enthaltsamkeit mit jeder Form der ehelichen Beschränkung sexueller Freiheit zusammengehen, also z. B. durchaus absolute Monogamie mit unbeschränktem vorehelichem Geschlechtsverkehr vorkommen kann, wenn auch in der allgemeinen sozialgeschichtlichen Entwicklung eine aus den Stabilitätsbedürfnissen der Ehe und Familie fließende Tendenz zur Kombination der maximalsten ehelichen und vorehelichen Sexualbeschränkung der Frau unverkennbar ist. Gesellschaften, die diese Regelung, also absolute Monogamie oder Polygamie auf der Grundlage vorehelicher Keuschheit der Frau, erreicht haben, ermöglichen den vorehelichen oder nebenehelichen Geschlechtsverkehr des Mannes meist durch die Einrichtung einer sozial gebilligten und geregelten Prostitution (vgl. S. 39 ff.). Diese hat sich als die Art des nebenehelichen Verkehrs des Mannes erwiesen, die die spezifischen, d. h. außersexuellen Interessen der Familie am wenigsten berührt und gefährdet, ja, zum Teil noch stabilisiert, was selbst dort gilt, wo sie, wie in Japan oder Griechenland, die geistig-seelischen und kulturellen Sublimierungen der Erotik auf sich zog. (Fs)
32b Dieser skizzenhafte Überblick über die verschiedenen sozialen Beschränkungen der ehelichen und vorehelichen sexuellen Freiheit und ihrer Kombinationen kompliziert sich nun noch dadurch, daß in entwickelteren Gesellschaften diese Normierungen bei den verschiedenen sozialen Schichten durchaus unterschiedlich durchgeführt und gültig sind, zunächst meist in der Form, daß die oberen und normtragenden Sozialschichten die rigoroseren Haltungen zuerst durchsetzen und eigentlich nur für sich selbst als verbindlich ansehen; in Verfallszeiten der sexuellen Moral ergeben sich allerdings dann zeitweise schichtenspezifisch umgekehrte Konstellationen. Aus dieser Unterschiedlichkeit der sozialen Regelung der Geschlechtsbeziehungen in den sozialen Schichten erwachsen dem Manne der oberen Klassen meist größere sexuelle Chancen und Freiheiten gegenüber den Frauen der unteren Schichten, als er sie innerhalb der eigenen Klasse besitzt. Leider können wir hier dieses Thema, das eine Fülle von Material in sich birgt, nicht weiter verfolgen. (Fs)
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