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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Ehe, Familie: primär auf langdauernder Fürsorge basierend; nur sekundär: Regelung der Sexualität

Kurzinhalt: Keineswegs sind Ehe und Familie einfach als Institutionalisierungen der Geschlechtsbeziehungen zu deuten, vielmehr liegt in ihnen nur eine indirekte Regelung der Geschlechtsbeziehungen vor, ...

Textausschnitt: 1. Die Ehe keine primär sexuelle Institution

27a Nach Klärung der grundsätzlichen und bis ins Tiefste reichenden sozialen und kulturellen Bestimmung des Verhaltens und des Verhältnisses der Geschlechter wollen wir uns der Erörterung der sozialen Institutionen zuwenden, die diese soziale Regulierung der Geschlechtlichkeit vornehmlich leisten. Unter diesen Einrichtungen steht zweifellos die Ehe an erster Stelle; die Beziehung zwischen Geschlechtstrieb und Ehe wird gemeinhin als ein eindeutig kausales Abhängigkeitsverhältnis verstanden: der Geschlechtstrieb scheint den wesentlichsten biologischen Faktor für die Entstehung und die innere Strukturierung der Ehe abzugeben, die ihrerseits also als Hauptaufgabe die Regulierung der Geschlechtsbeziehungen zu leisten hätte. In dieser Auffassung spricht sich im Grunde das naive Mißverständnis der spätbürgerlichen europäischen Gesellschaft aus, ihre sozial weitgehend funktionslos gewordene, auf die Intimität der reinen Personbeziehungen reduzierte Ehe, bei der sexuell-erotische Bedürfnisse das Primat als Heirats- und Partnerwahlmotiv erlangten, für das Urmodell der Ehe zu halten. Der sexuelle Trieb genügt sicher nicht, mehr als die gelegentliche Vereinigung der Geschlechter zu sichern; er kann daher nicht, wie es vielfach geschehen ist, als der familien- und ehebildende Faktor par excellence angesehen werden, vor allem, weil er das Moment der Dauerhaftigkeit der sozialen Bindung, die das Wesen der Ehe ausmacht, nicht erklärt. (Fs) (notabene)

27b Wenn man schon nach biologischen Faktoren und Tatsachen sucht, die gerade beim Menschen die Entstehung und den Bestand der Institutionen Ehe und Familie verursacht und gesichert haben, so steht zweifellos das spezifische Fürsorgeverhältnis, das beim Menschen zwischen Mutter und Kind gesetzt ist, also eher der <Brut-pflegetrieb> als der Geschlechtstrieb, hier an erster Stelle. Soviel ich sehe, hat John Fiske in seinem Buch <The Meaning of Infancy> (1883) als erster ausführlich darauf hingewiesen, daß die beim Menschen gegenüber allen Tieren ungewöhnlich lange Zeit der Kindheit und der Unfertigkeit der Verhaltensformen eine viele Jahre dauernde Fürsorge der Mutter für das Kind erzwingt und damit ein Dauerverhältnis zwischen Mutter und Nachkommen schafft, in das aus Gründen der Lebenssicherheit und des Lebensunterhaltes der Vater miteinbezogen wird. Dieses Dauerverhältnis der biologisch erforderlichen Fürsorge ermöglicht beim Menschen neue Formen der Affektbindungen und gegenseitigen Aktivität, der Sympathiever-hältnisse und moralischen Verpflichtungen, die ihrerseits dem bloßen Geschlechtsverkehr, sofern er zur Zeugung führt, eine ganz neue Bedeutung geben. (Fs)

28a Diese These gestattet zwei wichtige Einsichten in die Funktion der Ehe als sozialer Regulierung der menschlichen Geschlechtsbeziehungen: Zunächst verdeutlicht sie nämlich die Tatsache, daß sich die geschlechtlichkeitsregelnden Formen der Ehe erst sekundär von den Erfordernissen ableiten, die biologisch und sozial mit den Folgen des Geschlechtsaktes, dem Kinde, gesetzt sind, d. h. daß die Familienhaftigkeit die Struktur der Ehe als Geschlechtspartnerschaft bestimmt. Umgekehrt formuliert heißt dies, daß die Ehe unmittelbar keineswegs alle Geschlechtsbeziehungen reguliert, sondern nur diejenigen, die in der sozialen Anschauung und Sitte als auf Kinderzeugung abgestellt angesehen und anerkannt werden. Diese Einsicht in die sekundäre und partielle Regulierungsfunktion der Ehe gegenüber den menschlichen Geschlechtsbeziehungen lassen die meisten völkerkundlichen und soziologischen Erörterungen der Eheformen in anderen, speziell frühen und primitiven Gesellschaften vermissen; allzuoft wird in ihnen mit der nur für bestimmte Kulturzustände gültigen Annahme gearbeitet, daß die durch die Ehe geregelten Geschlechtsverhältnisse sich mit den legitim erlaubten völlig decken, so daß die nachgewiesenen regulären außerehelichen Geschlechtsbeziehungen dann als unerlaubte Ausnahmen, soziale Verfallserscheinungen oder gar als eigentümliche Variationen der <Eheform> erklärt werden müssen. Etwas anderes ist es, daß sich die aus der langdauernden Fürsorgegemeinschaft der Ehegatten erwachsenden sozialen, affektiven und moralischen Dauerhaltungen auch auf ihr Verhältnis als Geschlechtspartner übertragen, so daß dies, von habituellen und sozialen Stabilitätsbedürfnissen getragen, die Tendenz zum Vorrang vor flüchtigeren Geschlechtsbeziehungen, ja, die Tendenz zur Monopolisierung der sexuellen Beziehungen entwickelt, deren volle soziale Anerkennung aber erst von einem bestimmten kulturellen Stadium der gesellschaftlichen Verfassung an als gegeben angenommen werden kann. (Fs)

28b Weiterhin weist die Theorie Fiskes auf einen Tatbestand hin, der heute von den Völkerkundlern als der allgemeinste und vordringlichste Wesenszug aller Formen der Ehe und Familie angesehen wird: daß sie vorwiegend eine ökonomische Einrichtung und Gemeinschaft darstellt, daß diese Institution also in der Tat primär ihre soziale Stabilität der gegenseitigen Lebensfürsorge, den Sicherheits- und Unterhaltsleistungen von Eltern gegenüber Kindern und Ehegatten untereinander verdankt (vgl. z. B. Starcke, 35, S. 13; Westermarck, 40, Bd. I, p. 26; Malinowski, Science, Religion and Reality, 1926, p. 41). Aus dieser Funktion und Leistung heraus werden sich für die Ehegatten in einem von der jeweiligen Kultur- und Produktionsverfassung abhängigen Maße Beschränkungen der sexuellen Beziehungen als notwendig erweisen; insbesondere liegt hier ein gewisses Indiz dafür vor, daß in den Urkulturen aus der Schwere der Lebenssicherung und -unterhaltung sowie der Schwierigkeit der Kinderaufzucht sich die Einehe als optimale Lösung anbot, wenn man darunter gerade nicht eine religiöse und moralisch gestützte Monopolisierung der Geschlechtsbeziehungen versteht (sogenannte <Notmonogamie>). Aus dem Primat der daseinssichernden und wirtschaftlichen Funktionen der Ehe und Familie wäre auch zu verstehen, daß der Mann, sofern er diesen Aufgaben ausschließlicher zugeordnet ist als die aus der leiblichen Intimität zum Kinde unmittelbarer zur Fürsorge verpflichtete Frau, auch für die ihm in der Ehe gebotenen sexuellen Chancen immer mehr den Gesichtspunkt des <Gutes>, des <Besitzes> oder <Vorrates> entwickelt, d. h. daß die in der wirtschaftlichen und sozialen Durchsetzung und Vorsorge für die familiäre Gemeinschaft erworbenen Haltungen rückwirkend sein gesamtes geschlechtliches Verhalten als Führungsmotive durchdringen. In dieser Rolle als Medium für die Auswirkung außergeschlechtlicher Verhaltenskonstanten auf die Geschlechtlichkeit liegen die wesentlichsten Regulierungsfunktionen, die die Ehe gegenüber der menschlichen Sexualität erfüllt. (Fs)

29a So müssen wir Ehe und Familie als eine zwar auf den Geschlechtsbeziehungen zwischen Mann und Frau aufbauende, primär jedoch der biologisch erforderlichen langdauernden Fürsorge für die Nachkommenschaft gewidmete, vorwiegend ökonomische Gemeinschaft verstehen, deren Dauer und Verpflichtungen durch Religion, Sitte und Gesetz sozial geregelt und anerkannt sind. Keineswegs sind Ehe und Familie einfach als Institutionalisierungen der Geschlechtsbeziehungen zu deuten, vielmehr liegt in ihnen nur eine indirekte Regelung der Geschlechtsbeziehungen vor, die allerdings deshalb so hervorstechend und dauerhaft ist, weil in ihr der umfangreichste nichtsexuelle Tatbestand mit in die Institutionalisierung einbezogen ist. Alle Stabilität der Geschlechtsbeziehungen scheint also wesentlich aus nichtsexuellen Tatbeständen zu stammen und abgeleitet zu sein. (Fs) (notabene)

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