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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Die soziale Polarisierung der Geschlechter; Material: M. Mead; soziale Überformung des Biologischen; möglicher Einwand; Reprimitivisierungen

Kurzinhalt: Die wirklich vorhandenen biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind demgegenüber verhältnismäßig belanglos und mehr Anlaß als Ursache für die sozial verschiedenartige Formung der Rolle von Mann und Frau ...

Textausschnitt: 1. Die soziale polarisierung der Geschlechter

16a Das soziale und kulturelle Leben aller Gesellschaften baut sich in seinen Formen weitgehend auf dem Unterschied der Geschlechter, der Verschiedenheit der Rolle von Mann und Frau, auf. Gemeinhin sieht man in dieser verschiedenen sozialen Rolle einen naturgegebenen biologischen Unterschied, aus dem der soziale und kulturelle Aufbau nur die unumgänglichen Folgerungen für die sozialen Rollen der Geschlechter gezogen hat. Tatsächlich scheint es aber weitgehend umgekehrt zu sein: gerade weil fast alle Gesellschaften in ihren sozialen Verhaltenskonstanten und Institutionen auf dem Unterschied von Mann und Frau beruhen, wird dieser Unterschied nun auch über seine biologische Festgelegtheit hinaus sozial fixiert und mit allen Mitteln der sozialen Sanktionierung und Tabuierung absolut gesetzt, um damit aus dem Bereich der verfügbaren Verhaltensveränderungen ausgeblendet zu werden. Der Glaube an die <Natürlichkeit> der Geschlechtsunterschiede und des daraus folgenden unterschiedlichen sozialen und kulturellen Verhaltens ist selbst nur eine spezifisch moderne Form der sozialen Sanktionierung der Grundlagen der eigenen Kultur und Gesellschaftsverfassung (vgl. S. 48 ff.). Die wirklich vorhandenen biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind demgegenüber verhältnismäßig belanglos und mehr Anlaß als Ursache für die sozial verschiedenartige Formung der Rolle von Mann und Frau im sozialen und kulturellen Leben. (Fs) (notabene)

16b Diese Einsicht, daß jede Kultur in irgendeiner Weise die Rolle des Mannes und der Frau standardisiert und institutionalisiert, inhaltlich aber die Bestimmungen, was männliche und weibliche Verhaltensformen und Eigenschaften sind, in den Kulturen sehr verschieden, ja, in vielen Fällen durchaus gegensätzlich getroffen werden, hat vor allem Marg. Mead (23 b, d) an einem umfassenden ethnologischen Material zu belegen versucht. Wenn sie sagt, daß <das Material uns die Behauptung nahelegt, daß viele, wenn nicht gar alle Wesenszüge, die wir als männlich und weiblich bezeichnet haben, mit der eigentlichen Geschlechtlichkeit ebenso schwach nur verknüpft sind wie die Kleidung, die Umgangsformen und die Art der Frisur, die eine Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt jedem Geschlecht vorschreibt (23 b, p. 190), so unterbewertet sie dabei zwar die kulturell fundamentale Bedeutung der Institutionalisierang der Geschlechterrollen im Vergleich mit zeitlich schneller wechselnden Modeformen des Verhaltens, sieht aber richtig, daß diese Standardisierung der Geschlechtscharaktere und -verhaltenskonstanten im wesentlichen eine soziale <Superstruktur> darstellt, die in ihren jeweiligen Bestimmungen sich weit mehr aus den Gestaltungsprinzipien des betreffenden kulturellen Gesamtgefüges als von biologischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern ableiten und verstehen läßt. Der einzige fortführende Einwand gegen diese These hätte darin zu bestehen, daß bei der Abwehr des biologischen Dogmatismus in der Auffassung der Geschlechter hier nun eine falsche Betonung des <rein Sozialen) hörbar wird, die das Geschlechtliche doch wiederum, wenn auch als relativ bedeutungslos, dem <rein Biologischen> überläßt, während ja die Angewiesenheit auf die soziale Überformung gerade als biologisches Kennzeichen der menschlichen Geschlechtlichkeit aufzufassen wäre und die Ergebnisse Marg. Meads dazu führen müßten, das Biologische und Kulturelle als untrennbar bereits in der Humanbiologie zu behaupten. (Fs)

17a Da sich das Geschlechtliche des Menschen in alle kulturellen Handlungsschichten und Gebilde hin auszufalten vermag, reicht auch die soziale Differenzierung der Geschlechter in alle diese Bereiche hinein, so daß es müßig ist, die Gebiete, in denen diese Rollenverteilung zwischen Mann und Frau durchgeführt ist, einzeln aufzählen zu wollen: sie ist praktisch so universal wie die Sexualisierung menschlicher Handlungsformen überhaupt. Alle soziale und politische Betätigung sowie die sie regelnde Rechtsordnung, insbesondere der Erbgang sozialer Rechte, sind in allen Kulturen mehr und minder von der Unterschiedlichkeit der Rolle der Geschlechter her differenziert; das gleiche gilt für die religiösen, künstlerischen und geselligen Verhaltensformen, ja, diese Differenzierung reicht in manchen Kulturen sogar bis zur Entstehung eigener Frauensprachen, die die Männer nicht verstehen oder schicklicherweise nicht verstehen dürfen, während andererseits die ebenfalls bis ins Sprachliche gehende Geheimniskrämerei der Männer in ihren Männerbünden und -häusern die umgekehrte Aussonderang des anderen Geschlechtes darstellt. (Fs)

17b Diese geschlechtlich zwiegespaltenen Verhaltensformen aller Kulturbereiche können damit zu unabdingbaren sexuellen Reizvoraussetzungen und zugleich sexuellen Befriedigungsmöglichkeiten im Verkehr der Geschlechter untereinander werden, wie sie umgekehrt wiederum auch die Form der Kontrolle und Führung des geschlechtlichen Verhaltens darstellen. Die umfassende Übernahme aller fundamentalen und traditionellen Verhaltensformen des gesamten jeweiligen Kulturgefüges durch die heranwachsenden jungen Menschen ist also die unmittelbarste Sexualerziehung und Prägung der Geschlechtsmoral, die es überhaupt gibt, da alle kulturellen Verhaltenskonstanten sich eben nur in der Form der jeweiligen Geschlechtskonformität erwerben lassen. Zugleich erkennt man von hier aus, daß alle Geschlechtsmoral in ihrem kulturellen Grundbestand immer <doppelte Moral> ist und sein muß, da es immer zwei Rollen zu stilisieren gilt, deren sozial bedingte Variabilität allerdings auch den Grenz- und Sonderfall möglich macht, diese beiden Verhaltensprinzipien annähernd gleichartig zu standardisieren. Wo die Tendenz dazu mehr ist als eine bloße Mäßigung extrem gegensätzlich gewordener geschlechtlicher Rollenverschiedenheiten, beruht sie fast immer auf einer künstlichen Absonderung und Verselbständigung der Geschlechtsbeziehungen von den übrigen Lebens- und Kulturgebieten, wobei dann allerdings auch immer die Problematik einer gesonderten Sexualerziehung, etwa als <sexuelle Aufklärung>, auftaucht. Wird die Gesamtheit kultureller Lebensformen unwirksam gegenüber dem geschlechtlichen Verhalten und dieses autonom, so führt das hier wie da zu einem Abbau von Geformtheiten, also zu Reprimitivisierungen. (Fs)

18a Müssen wir die verschiedenartige Formung der geschlechtlichen Rollen als die normale Grundlage des kulturellen Gefüges ansehen, so zeigt uns doch jeder Kulturvergleich, daß der Inhalt dessen, was in einer Kultur als der Unterschied von männlicher und weiblicher Rolle gilt, nun wieder außerordentlich variabel ist; auch interkulturell können wir in all den genannten Lebensbereichen durchaus gegensätzliche soziale Standardisierungen der Geschlechtscharaktere des Männlichen oder des Weiblichen feststellen, so z. B. in der Rechtsordnung die Gegensätzlichkeit von Mutter- und Vaterrecht, die sich widersprechende Bedeutung der Frau oder des Mannes in den verschiedenen Religionen usw. Die Abstufungen des Unterschieds zwischen den Geschlechtern auf allen kulturellen Lebensgebieten und die interkulturelle Variabilität dieses Unterschiedes ergeben zusammen den Grundbestand einer bereits unübersehbaren Fülle sozialer Formen von Geschlechtsbeziehungen. (Fs)

18b Nur auf einem Lebensgebiet wollen wir dieser sozialen Rolle der Geschlechter näher nachgehen: auf dem der Produktionsformen der Gesellschaft; gerade an der geschlechtlich differenzierten Arbeitsteilung lassen sich vielleicht am besten das Ausmaß und die Berechtigung dieser These von der sozialen Superstruktur des Geschlechtlichen verdeutlichen. Gegen die Behauptung der fast unbeschränken sozialen Variabilität dessen, was eine Kultur als männlich oder weiblich standardisiert, könnte man schließlich den gleichen Einwand erheben, mit dem sich William G. Sumner in einem nüchternen Satz gegen den Versuch, die Rolle von Mann und Frau möglichst gleichartig zu bestimmen, wendet: <No amount of reasoning, complaining or protesting, can alter the fact that woman bears children and man does not>1. Gerade in den Arbeits- und Produktionsformen, in denen die körperliche Verfassung stets eine wichtige Rolle spielt, müßten die natürlichen Nachteile der Mutterschaft und Menstruation für das weibliche Geschlecht am klarsten in Erscheinung treten und daher zu einer in allen Kulturen annähernd oder wenigstens in den Grundzügen gleichartigen Verteilung der Arbeitsweisen auf die Geschlechter geführt haben. Ein Überblick über das vorhandene ethnologische Material, wie ihn etwa Goldenweiser (19) gibt, zeigt dagegen sehr bald, daß, wenn überhaupt, nur sehr wenige und keineswegs produktionsgrundsätzliche Beschäftigungen ausschließlich von dem einen oder dem anderen Geschlecht praktiziert werden. Die zweifellos vorhandene biologische Behinderung der Frau durch ihre Geschlechtlichkeit erweist sich als durchaus anpassungsfähig gegenüber einer bis in die Gegensätze gehenden Variation der sozialen Verteilung der Arbeits-Rollen; daß zudem diese Behinderung in unserer modernen Welt bei weitem überschätzt wird, zeigt jeder Vergleich mit der Arbeitsleistung und -kontinuität der Frau in vielen primitiven Gruppen oder rein bäuerlichen Gesellschaften und hängt vor allem mit der Lebensart zusammen, die unsere soziale Tradition und Sitte der Frau im allgemeinen, besonders aber der schwangeren Frau, auferlegt haben, wobei konstitutionelle Veränderungen in diesem Zusammenhang durchaus zugestanden seien. (Fs)

19a So trägt bei Primitiven im allgemeinen die Frau die Last des Ackerbaus - vielfach mit der ideologischen Begründung, daß sie <von Natur aus> dazu bestimmt sei, da sie als Gebärerin allein etwas wachsen lassen könne -, während bei den europäischen und asiatischen Kulturvölkern die Verhältnisse meist umgekehrt liegen. Selbst in den gemeinhin als eigentümlich männlich angesehenen Beschäftigungen der Jagd oder der Kriegsführung oder umgekehrt der als spezifisch weiblich betrachteten des Kochens und der Haushaltsführung gibt es genügend sozial bedingte Ausnahmen: unter den Tasmaniern wird die schwierige Seehundsjagd durch Frauen betrieben, <sie schwammen hinaus zu den Seehundsfelsen, beschlichen die Tiere und erschlugen sie mit Keulen; die Tasmanierfrauen jagten auch das Opossum, wobei sie große Bäume erklettern mußten>2. In der Völkerkunde berühmt ist die sehr kriegerische und grausame Leibgarde des Königs von Dahomey, die aus Frauen bestand; umgekehrt finden wir bei Athenäus, einem griechischen Schriftsteller des 3. Jahrhunderts, den Ausruf: <Wer hat je von einer Frau gehört, die kocht>3! Allerdings haben gerade die industriell-bürokratischen Produktionsbedingungen wiederum einen großen Bestand an geschlechtlich neutralen Arbeits- und Berufsmöglichkeiten geschaffen und sind so ihrerseits zu einer Ursache der modernen Tendenz der Angleichung in der Rolle der Geschlechter geworden. Es bleibe dahingestellt, ob dies nicht eine Begleiterscheinung des Beginns aller großen, epochalen Produktionsveränderungen darstellt und ob daher mit der sozialen Verarbeitung dieser Revolution der Produktionsbedingungen nicht doch wiederum eine geschlechtlich unterschiedlichere Stilisierung auch dieser Art von Arbeitsformen zu erwarten ist. (Fs)

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