Autor: Lonergan, Bernard J.F. Buch: Die Einsicht Titel: Die Einsicht Bd. I und II Stichwort: Bewusstsein: empirisch, intelligent, rational; Intelligenz - Intelligibilität, Vernünftigkeit - Begründetheit Kurzinhalt: Unter Bewußtsein wird ein Innesein (Gewahrwerden) verstanden, das den Erkenntnisakten immanent ist. Diese Akte aber sind von verschiedenen Arten, und so unterscheidet sich auch das Innewerden ... je nach den Akten Textausschnitt: 2. Empirisches, intelligentes und rationales Bewußtsein b [322]
376a Unter Bewußtsein wird ein Innesein (Gewahrwerden) verstanden, das den Erkenntnisakten immanent ist. Diese Akte aber sind von verschiedenen Arten, und so unterscheidet sich auch das Innewerden in seiner Art je nach den Akten. Es gibt ein empirisches Bewußtsein, das für das Empfinden, Wahrnehmen, Vorstellen charakteristisch ist. Wie der Inhalt dieser Akte nun präsentiert oder repräsentiert wird, so ist das in diesen Akten immanente Innewerden die reine Gegebenheit der Akte. Aber es gibt auch ein intelligentes Bewußtsein, das für das Untersuchen, Einsehen und Formulieren charakteristisch ist. Auf dieser Ebene strebt der Erkenntnisprozeß nicht nur nach dem Intelligiblen und erreicht es, sondern er erweist in diesem Tun seine eigene Intelligenz; er handelt intelligent. Das Innesein ist präsent; aber es ist das Innesein der Intelligenz; dessen, was nach Verstehen strebt; dessen, was durch das Verstehen befriedigt wird; dessen, was das Verstandene formuliert, nicht wie ein Schüler, der eine Definition auswendig wiederholt, sondern wie einer, der definiert, weil er versteht, warum diese Definition die Sache trifft. Schließlich, auf der dritten Ebene von Reflexion, Erfassen des Unbedingten und Urteil gibt es das rationale Bewußtsein. Es ist das zutage Treten und das wirksame Handeln eines einzigen Gesetzes von höchster Allgemeinheit, das Gesetz vom zureichenden Grund, wobei der zureichende Grund das Unbedingte ist. Es entsteht als eine Forderung nach dem Unbedingten und als eine Weigerung, auf der Basis weniger befriedigender Gründe vorbehaltlos zuzustimmen. Es schreitet zum Erfassen des Unbedingten weiter. Es endet in dem rationalen Zwang, mit dem das Erfassen des Unbedingten nach Zustimmung verlangt. (Fs)
377a Das empirische Bewußtsein braucht vielleicht keinen weiteren Kommentar; denn wir verwendeten es, um den Unterschied zwischen bewußten und unbewußten Akten zu erläutern. Das intelligente und das rationale Bewußtsein ihrerseits können durch eine Kontrastierung Klärung finden. Auf verschiedene Weisen betrachten sowohl der Common Sense als auch die positive Wissenschaft die materielle Welt als intelligiblen Mustern unterworfen und durch irgendein Kausalitätsgesetz geregelt. Beschränken wir die Aufmerksamkeit auf das, was der Mensch am besten kennt, nämlich seine Artefakte, so läßt sich in diesen ein intelligibler Plan ausmachen, und ihre Existenz hat ihren Grund in der Produktionsarbeit. Ehe der Plan aber in den Dingen verwirklicht wird, wurde er von der Intelligenz erfunden; ehe die Reihenfolge der Produktionshandlungen eingeleitet wurde, wurde sie wegen eines hinreichenden oder scheinbar hinreichenden Grundes als der Mühe wert bejaht. Im Ding gibt es den intelligiblen Plan; aber im Erfinder gab es nicht nur die Intelligibilität auf der Objektseite, sondern auch das intelligente Bewußtsein auf der Subjektseite. Im Ding gibt es die Begründetheit, welche darin besteht, daß seine Existenz durch eine Reihenfolge von Handlungen erklärt wird; im Unternehmer aber gab es nicht nur die Begründetheit seines Urteils in den Gründen, welche zu [323] ihm führten, sondern auch das rationale Bewußtsein, welches nach Gründen verlangte, um zu einem Urteil zu kommen. (Fs)
377b Intelligenz und Intelligibilität sind die Vorder- und Rückseite der zweiten Erkenntnisebene: Die Intelligenz sucht nach intelligiblen Mustern in den Vorstellungen der Erfahrung bzw. der Einbildungskraft; sie erfaßt solche Muster in ihren Augenblicken des Einsehens; sie nützt dieses Erfassen in ihren Formulierungen und weiteren Handlungen, die ebenfalls durch Einsichten geleitet werden. Auf ähnliche Weise sind Vernünftigkeit und Begründetheit die Vorder- und Rückseite der dritten Erkenntnisebene. Die Vernünftigkeit ist Reflexion, insofern sie nach der Begründetheit der Gedankenobjekte sucht; die Vernünftigkeit entdeckt die Begründetheit in ihrem reflektierenden Erfassen des Unbedingten; die Vernünftigkeit nützt die Begründetheit, wenn sie Objekte bejaht, weil sie begründet sind. In den Artefakten des Menschen kommen die rückseitigen Elemente der Intelligibilität und Begründetheit vor, aber nicht die vorderseitigen der Intelligenz und Vernünftigkeit. Die vorderseitigen Elemente gehören zum Erkenntnisprozeß auf seiner zweiten und dritten Ebene; sie gehören nicht zu den auf diesen Ebenen hervortretenden Inhalten, zur Idee oder zum Begriff, zum Unbedingten oder zum Bejahten; im Gegenteil, sie charakterisieren die Akte, mit welchen diese Inhalte gekoppelt sind, und sind somit spezifische Differenzierungen des Innewerdens des Bewußtseins. Eine klare und deutliche Auffassung offenbart nicht nur die Intelligibilität des Objektes, sondern manifestiert auch die Intelligenz des Subjektes. Exaktes und ausgewogenes Urteilen bejaht die Dinge nicht nur so, wie sie sind, sondern bezeugt auch die Vorherrschaft der Vernünftigkeit im Subjekt. (Fs)
378a Es mag nun noch immer gefragt werden: Bin ich mir wirklich der Intelligenz und Vernünftigkeit bewußt? Die Frage ist, wie ich meine, irreführend. Sie legt nahe, daß es einen Typ des Erkennens gibt, in welchem Intelligenz und Vernünftigkeit sich der Inspektion zur Verfügung stellen. Was aber behauptet wird, ist nicht, daß man die Intelligenz durch Introspektion aufdecken kann, so wie man mit dem Finger auf Calcutta auf einer Karte zeigen kann. Die Behauptung ist, daß man bewußte Zustände und bewußte Akte hat, die intelligent und vernünftig sind. Intelligentes und rationales Bewußtsein bezeichnen Charakteristika des Erkenntnisprozesses und die Charakteristika, die sie bezeichnen, gehören nicht zu den Inhalten, sondern zu der Vorgehensweise. Es widerstrebt mir, Astrologie und Astronomie, Alchimie und Chemie, Legende und Geschichte, Hypothese und Tatsache auf exakt denselben Sockel zu stellen. Ich bin nicht zufrieden mit Theorien, wie brillant kohärent auch immer, sondern ich bestehe darauf, weiter zu fragen: Sind sie wahr? Was ist dieses Widerstreben, dieses Unbefriedigtsein, diese Hartnäckigkeit? Sie [324] sind nur eben so viele Variationen der fundamentaleren Ausdrucksweise, daß ich rational bewußt bin; daß ich einen hinreichenden Grund verlange; daß ich ihn im Unbedingten finde; daß ich vorbehaltlos nur diesem meine Zustimmung gebe; daß solches Fordern, Finden, sich-Festlegen nicht wie das Wachsen meines Haares, sondern innerhalb des Feldes des Bewußt- oder Inneseins stattfindet. (Fs)
378b Wenn ich auch manchmal in ein Lotosland flüchten kann, in welchem reine Vorstellungen der Sinne und der Einbildungskraft nebeneinander stehen oder aufeinander folgen, ist dies doch nicht mein Normalzustand. Die Humesche Welt der bloßen Eindrücke kommt auf mich zu als ein Puzzlespiel, das noch zusammenzusetzen ist. Ich will verstehen, intelligible Einheiten und Beziehungen erfassen, wissen, was los ist und wo ich stehe. Lobpreisung des wissenschaftlichen Geistes, der forscht, meistert, kontrolliert, bleibt nicht ohne Echo, ohne einen tiefen Widerhall in mir; denn auf meine bescheidenere Weise forsche und erfasse auch ich, sehe ich, was zu tun ist, und daß es richtig getan wird. Was anderes aber sind diese als Variationen der grundlegenderen Ausdrucksweise, daß ich mir intelligent bewußt bin, daß das für die Erkenntnisakte auf der zweiten Ebene charakteristische Innewerden ein aktives Beitragen ist zur Intelligibilität seiner Produkte? Wenn ich die Geschichte von Archimedes höre und wenn ich den Bericht einer mystischen Erfahrung lese, gibt es da einen markanten Unterschied. Was ein Mystiker erfährt, weiß ich nicht. Aber, wenn ich selbst auch nie mich einer so bemerkenswerten Einsicht erfreute, wie das Archimedes tat, weiß ich doch, was es bedeutet, den springenden Punkt zu verpassen und den springenden Punkt zu erfassen, keinen Anhaltspunkt zu haben und dann zu kapieren, die Dinge in einem neuen Licht zu sehen, zu erfassen, wie sie zusammenhängen, zur Erkenntnis des Grundes, der Erklärung, der Ursache zu gelangen. Nachdem Archimedes "Ich hab's!" geschrien hatte, mag er verlegen gewesen sein, wenn er gefragt worden wäre, ob er sich einer Einsicht bewußt sei. Es kann aber kein Zweifel darüber bestehen, daß er sich eines Erkenntniszuwachses bewußt war, eines Zuwachses, nach dem er sehr stark verlangt hatte. Suchte er nach der Gunst des Königs? Wollte er seinen Ruf steigern? Vielleicht; aber auf einer tieferen und spontaneren Ebene wollte er wissen, wie etwas angepackt werden mußte; er wollte ein Problem lösen; er wollte verstehen; sein Bewußtsein war auf der zweiten Ebene, wo es das Intelligible sucht und Teileinsichten mit weiteren Fragen verfolgt, bis es zur letzten krönenden Einsicht gelangt, die dem Fragen ein Ende setzt und das intelligente Bewußtsein befriedigt. (Fs)
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