Datenbank/Lektüre


Autor: Pinckaers, Servais

Buch: Christus und das Glück

Titel: Christus und das Glück

Stichwort: Gewissen: zwei Seiten; Newman

Kurzinhalt: Das Gewissen hat in der Tat zwei Gesichter: Durchaus schaut es auf das Gesetz und auf Gott, aber es vertritt auch die Person selbst, das Ich, zu dem es gehört. Als Reaktion ...

Textausschnitt: Veränderungen im Verständnis des Gewissens

46c Hinsichlich der Rolle und der Bedeutung des Gewissens lässt sich ein beachtlicher Wandel in der Mentalität feststellen. Die Handbücher der Moral haben dem Gewissen zentrale Bedeutung eingeräumt: Es vermittelt zwischen Gesetz und Freiheit, es wendet das Gesetz auf die konkreten Handlungen an und bildet ein eigenständiges moralisches Urteil. Moraltheologen müssen in dieser Sichtweise vor allem die Konfliktfälle lösen. Dadurch wurde das Gewissen zum Kernbegriff des sittlichen Lebens. Der Schwerpunkt der Ethik blieb jedoch das Gesetz. Die Moraltheologen und das Gewissen des Einzelnen waren nur Interpreten dieses Gesetzes. (Fs)

47a Das Gewissen kann jedoch mannigfaltigere Funktionen ausüben als lediglich moralische Pflichten aufzubürden. In der christlichen Tradition, die zum Beispiel Kardinal John Henry Newman (1801-1890) schildert, bezeichnet das Gewissen die Stimme Gottes, die im inneren Herzen des Menschen gleichsam unter vier Augen spricht. Das Gewissen befiehlt und beurteilt auf souveräne Weise. Es ruft auch zur Bekehrung auf und entwirft die oft überraschenden Wege einer Berufung. Das Gewissen ist sehr persönlich und doch kann es tiefe Bande der kirchlichen Gemeinschaft stiften. (Fs)

47b Kardinal Newman nannte das Gewissen den >ersten Stellvertreter Christi<. Er bemerkte jedoch bereits im 19. Jahrhundert, dass das ursprüngliche Verständnis des Gewissens verloren gegangen war: Für viele Leute, so schrieb er, stelle die Berufung auf das Gewissen nicht mehr eine Beziehung zu einem inneren Richter dar, sondern bedeute nur die Forderung des »Rechtes eines Engländers in allen Angelegenheiten Herr über sich selbst zu sein«, ohne Bezug auf Gott oder eine kirchliche Autorität (A Letter Addressed to His Grace the Duke of Norfolk on Occasion of Mr. Gladstone's Recent Expostulation, New York 1875, S. 73 und S. 75). (Fs) (notabene)

47c Das Gewissen hat in der Tat zwei Gesichter: Durchaus schaut es auf das Gesetz und auf Gott, aber es vertritt auch die Person selbst, das Ich, zu dem es gehört. Als Reaktion gegen den Legalismus hat sich in katholischen Milieus in der Zeit nach dem Konzil eine Abneigung gegenüber dem Gesetz herausgebildet, wodurch sich der Schwerpunkt der Ethik zur Freiheit, zur Person und zum Gewissen verlagert hat. Tendenziell wird das subjektive Gewissen zum höchsten Richter der Moral. Dabei beachtet man nicht genügend das mögliche Missverständnis, das entsteht, wenn man das Gewissen in etwa mit der eigenen Meinung identifiziert, die im Übrigen häufig Ausdruck von Selbst-Rechtfertigungen ist. (Fs)

47d Wir gleiten zu diesem Verständnis des Gewissens auch deshalb so leicht ab, weil wir in demokratischen Gesellschaften leben, wo man gewohnt ist Entscheidungen auf der Grundlage von Mehrheitsmeinungen zu fällen. In diesem Rahmen sind auch die Ethiker versucht, die Probleme des Gewissens in Übereinstimmung mit der vorherrschenden Mentalität zu behandeln. Gelegentlich stützen sie ihre Entscheidungen auch auf Meinungsforscher und schreiben den Umfragen moralische Autorität zu. (Fs) (notabene)

48a Sie errichten so die Sittenlehre auf der Grundlage von schwankenden Meinungen und Debatten zwischen den Mehrheiten und den Autoritäten (wie übrigens schon zur Zeit des Probabilismus-streites), anstatt auf einer kompetenten und intensiven Erforschung der grundlegenden Elemente der ethischen Probleme aufzubauen. Damit sind sie weit vom Gewissensbegriff Newmans entfernt, demzufolge das Gewissen in der Gegenwart Gottes urteilt, indem es auf seine erhabene Stimme hört. Mit anderen Worten, nach Newman lässt sich das Gewissen von Gott beurteilen und von seinem Gesetz leiten, in intelligentem, offenem und fruchtbarem Gehorsam. Zur Unterscheidung zwischen einem wahren und irrenden Gewissen dient als Zeichen, dass das wahre Gewissen immer anspruchsvoll ist, gleich dem engen und steinigen Weg im Gegensatz zum einfachen und breiten Weg, gemäß der Beschreibung des Evangeliums. Des Weiteren verleiht das wahre Gewissen jenen, die ihm gehorchen, einen Frieden und eine Freude, die nicht von außen gestört werden können, während das irrende Gewissen unweigerlich Zweifel und Zerrissenheit, Zugeständnis und Verwirrung hervorruft. (Fs) (notabene)

____________________________

Home Sitemap Lonergan/Literatur Grundkurs/Philosophie Artikel/Texte Datenbank/Lektüre Links/Aktuell/Galerie Impressum/Kontakt