Autor: Pinckaers, Servais Buch: Christus und das Glück Titel: Christus und das Glück Stichwort: Das Neue Gesetz: der Glaube an Christus als Wurzel Kurzinhalt: Der Glaube ist die Quelle schlechthin für die Morallehre, die dem Evangelium folgt; er verdankt sich dem Heiligen Geist, der ihn in den Gläubigen hervorruft und der von innen her die Weisheit und Gerechtigkeit Gottes lehrt.
Textausschnitt: Die Wurzel: der Glaube an Christus
75c Das Neue Gesetz hat in uns als Ursprung den Glauben an Christus. Wir vergessen leicht, dass der Glaube die Mutter der christlichen Ethik ist; wir haben ihn auf die Pflicht reduziert, bestimmte Wahrheiten zu glauben, deren Leugnen eine Sünde ist, und wir haben die Verbindung des Glaubens mit den Werken aufgeweicht. Wenn sich der heilige Paulus im Römerbrief über die jüdische Moral äußert, die sich auf die Gerechtigkeit als reinen Gesetzesgehorsam versteift und die griechische Moral mit ihrem vermessenen Streben nach Weisheit kritisiert, stellt er ihnen provokativ den Glauben an den gekreuzigten Christus gegenüber, der Gerechtigkeit und Weisheit Gottes für uns geworden ist. Der Glaube ist die Quelle schlechthin für die Morallehre, die dem Evangelium folgt; er verdankt sich dem Heiligen Geist, der ihn in den Gläubigen hervorruft und der von innen her die Weisheit und Gerechtigkeit Gottes lehrt. (Fs)
Tabelle: Ist das Neue Gesetz ein geschriebenes Gesetz? (hier ausgelassen)
76a Der Glaube bewirkt eine substanzielle und einzigartige Transformation des moralischen Lebens, in dessen Zentrum nun eine bestimmte Person steht: Jesus Christus. Dieser wird in seiner historischen Einmaligkeit, in dem Leib, der gelitten hat und auferstanden ist, der Quell und die Ursache der Gerechtigkeit und der Weisheit, mit einem Wort, der Moralität der Gläubigen. Jesus ist nicht lediglich ein Weiser oder ein Vorbild; durch die persönliche Verbindung mit ihm, die der Glaube und die Liebe bewirken, entsteht zwischen seinen Nachfolgern und ihm eine so enge geistige Gemeinschaft, dass der heilige Paulus das christliche Leben als ein 'Leben in Christus' beschreibt. »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir«, sagt er im Galaterbrief (2, 20). Diese Sichtweise ist im ethischen und religiösen Denken einmalig: Die Person Jesu ist für die Christen zum Zentrum des moralischen Lebens geworden, so wie er es im Übrigen auch im Gebet und in der Liturgie ist, die dieses moralische Leben nähren. (Fs)
77a Hier zeigt der Glaube seine ganze Stärke. Der Glaube darf nicht, wie es heutzutage oft geschieht, auf eine gewisse Lebenseinstellung oder auf eine Bejahung des Credos mit dem Kopf allein reduziert werden. Der Glaube ist ein lebendiger Akt; er bindet die Person für immer an eine andere Person. Genauso wurzelt die Ehe in einem Glaubensakt der Eheleute, der aus ihrer Liebe entspringt und der eine bestimmte Auffassung von der gemeinsamen Zukunft mit sich bringt, die gewissermaßen prophetischer Natur ist. Ebenso geht jede fruchtbare Entscheidung auf individueller, politischer und sogar künstlerischer Ebene aus einem Akt des Glaubens an eine bestimmte 'Idee' hervor, die die Handlung oder das Werk inspiriert und zu seiner Vollendung führt. Keine Wissenschaft, die lediglich das festhält, was ist, kann die Intuition des Glaubens hervorbringen; der Glaube ist eine Erkenntnisweise ganz anderer Natur. Der Glaube wird zur inneren Regel dessen, was man tut, der konstruktiven, kreativen Handlung und zeugt so Lebendigkeit und Liebe. Er erweckt die Hoffnung, die dem Leben seinen Elan verleiht. Auf diese Weise steht der Glaube an Christus als ein inneres Gesetz beim Wachsen des sittlichen Lebens des Christen an erster Stelle. (Fs)
Der Lebenssaft: die Liebe
77b Der Glaube ist »in der Liebe wirksam« (Gal 5,6). Während der Glaube die Wurzel ist, ist die Liebe mit dem Lebenssaft vergleichbar, der dem Stamm Nahrung gibt und in die Äste - das heißt die vielfältigen Tugenden - aufsteigt, um die moralischen Handlungen als köstliche Früchte hervorzubringen. In der Tat wirkt der Heilige Geist durch die neue Liebe, die in Christus offenbar wurde und sich uns mitgeteilt hat. Der Primat der Liebe gegenüber den Gaben des Geistes und den anderen Tugenden wurde deutlich vom heiligen Paulus in seinem ersten Korintherbrief (Kap. 12-13) sowie im Johannesevangelium gelehrt, wo Christus die Liebe zu einem neuen Gebot macht (Joh 13,34). Diese Lehre ist sehr wertvoll; man kann sie spezifisch christlich in ihrer Wirkkraft und Universalität nennen, sofern sie sich sogar bis hin zu den Feinden erstreckt. Sie entfaltet sich weiter in der Moraltheologie, wo sichtbar wird, wie die Liebe alle Tugenden beseelt. (Fs)
Liebe und Tugenden
78a Die Liebe wird gewöhnlich als die Mutter und Form aller Tugenden charakterisiert. In der Tat ist sie Urheberin und Inspiration der Tugenden, deren organische Einheit gemäß der Moraltheologie in den göttlichen Tugenden und den Kardinaltugenden wurzelt. Die Tugenden sind miteinander so verbunden, dass sie nur gemeinsam wachsen und tätig sind, so wie die Glieder eines lebendigen Leibes. (Fs)
78b Die christlichen Autoren haben die Tugendlehre der antiken Philosophen grundsätzlich übernommen; sie haben diese Lehre jedoch in wichtiger Hinsicht umgeformt, sofern sie der göttlichen Tugend der Liebe eine zentrale Bedeutung beigemessen haben. Obwohl die Tugend der Philosophen so edel ist und nach außen ausstrahlt, bleibt man doch in der Ausübung der Tugend allein, gleichsam in seiner eigenen Vortrefflichkeit eingeschlossen. Sofern aber gemäß der christlichen Tugendlehre die Liebe an der Wurzel aller Tugenden steht, verändert sich das Verständnis der Tugenden tiefgreifend. Die Liebe stiftet Gemeinschaft mit Christus und macht uns dadurch für das Wirken des Heiligen Geistes empfänglich. Wir können unsere Tugenden nun nicht mehr als unser Eigentum auffassen. Obwohl sie in uns persönlich wirken, gehören sie dem, der sie inspiriert. Daraus ergibt sich eine innere Einstellung, die für die Liebe charakteristisch ist: eine aktive Empfänglichkeit, eine dynamische Aufnahme, ein freimütiger Gehorsam gegenüber dem Heiligen Geist, der der Handlung umso mehr Stärke verleiht, als man bei ihrer Ausübung nicht mehr auf sich allein gestellt ist. Durch die Liebe überträgt sich die Haltung, in der sich Folgsamkeit und Initiative vereinen, auf die anderen Tugenden, was diesen ihren besonderen Charakter verleiht. (Fs)
Liebe und die Gaben des Heiligen Geistes
79a Um dieser besonderen Erfahrung in angemessener Weise Rechnung zu tragen hat Thomas von Aquin im Gefolge des heiligen Augustinus seine Lehre von den Gaben des Heiligen Geistes entwickelt. Verbunden mit den Tugenden machen uns die Geistesgaben gegenüber den Anregungen des Geistes Christi fügsam. Die Liste der sieben Geistesgaben ist vom Propheten Jesaja übernommen (11, 1-8, nach dem Text der Septuaginta). Es sind die Weisheit, die Einsicht, der Rat, die Stärke, die Erkenntnis, die Frömmigkeit und die Ehrfurcht. Wie bereits erläutert, ordnet Thomas jeder Tugend eine Geistesgabe zu. Die Tugenden und die Gaben bilden so die beiden Seiten desselben Organismus der Liebe, die am Ursprung der Werke des Heiligen Geistes im Leben der Gläubigen stehen. (Fs)
79b Die Beteiligung des Heiligen Geistes am Wachstum der Tugenden macht deutlich, dass er in uns mehr im Rahmen unserer ständigen Bemühungen des Alltags wirkt, als dass er sich in außergewöhnlichen Geschehnissen, plötzlichen Bewegungen oder besonderen Charismen zeigt. Er bewegt uns wie der Lebenssaft, dessen Wirken man weder sieht noch spürt, da er so diskret in den Anregungen und Vorhaben wirksam ist. Wenn wir ihm vertrauen, bereitet uns der sanfte Anstoß des Geistes jedoch auf die Blüte des Frühlings und die Reife des Herbstes vor. Dann kann der Heilige Geist in uns Werke hervorbringen, die überraschend sein können; die Gaben lassen uns nämlich wie tiefe Inspirationen das Maß der einfachen Vernunft im Umgang mit den Dingen, in der Großzügigkeit, in der Tapferkeit oder in der Loslösung übertreffen. So hat zum Beispiel Franz von Assisi für sich mit Liebe die Armut ausgewählt. Vinzenz von Paul und Mutter Teresa haben sich jeglichen Elends angenommen. Weitere Beispiele dafür sind die Märtyrer im Gefolge Stephans in der Apostelgeschichte, Cyprian in Karthago oder die schlichte Blandine, Patronin der Stadt Lyon, die inmitten von Folterungen und bis hin zum Anblick des Todes eine friedvolle und sogar freudige Zuversicht behalten hat. So führen die Geistesgaben die Tugenden zu ihrer Vollendung. (Fs)
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