Autor: Schelsky, Helmut Buch: Soziologie der Sexualität Titel: Soziologie der Sexualität Stichwort: Sexualität als Konsum 1; Freizeit, Orientierungssystem: Herrschaft der Konsumbedürfnisse; Voraussetzung: empfängnisverhütende Mittel; Kontrazeption -> Schwäche der Moral
Kurzinhalt: Die soziale Zuordnung der Menschen wird heute in viel stärkerem Maße durch die arbeitsteiligen und großorganisatorisch-bürokratischen Produktions- und Verwaltungsformen bestimmt, so daß ...
Textausschnitt: 3. Sexualität als Konsum
118b Man kann dem sozialen Zeitcharakter der Sexualität noch auf eine andere Weise nahe kommen, als daß man ihn von der Selbstdeutung und Innengeführtheit des Verhaltens her begreift: indem man ihn nämlich von der Struktur und den Verhaltenskonstanten der Gesamtgesellschaft her versteht. Daß die Rolle und Bedeutung der Sexualität in der Gesellschaft immer von der Verfassung des sozialen Gesamtgefüges her mitbestimmt war, haben wir an vielen Stellen unserer Untersuchung gesehen: an der Unterordnung der Sexualität unter familiäre Statusbedürfnisse in allen Gesellschaften, in denen der Familienverband noch die rechtliche Grundeinheit der öffentlichen Ordnung war, an der Trennung zwischen <niederer> Lust und <idealer Liebe> in der Klassengesellschaft usw. Welches sind die Wesenszüge, die dem sexuellen Verhalten heute von der Gesamtstruktur der Gesellschaft aufgeprägt werden? (Fs)
119a Um dies zu beantworten, wäre nun zuerst eine Analyse der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur erforderlich; wir müssen uns hier auf einige Andeutungen beschränken. Es herrscht in der Soziologie allgemeine Übereinstimmung darüber, daß die Klassenspannung und -Schichtung nicht mehr als die tragende Strukturgesetzlichkeit der westlichen Gesellschaften angesehen werden kann, sondern daß sich eine weitgehende Verwischung und Nivellierung der Klassengegensätze und -unterschiede vollzogen hat, die sich auch in einem verhältnismäßig nivellierten und vereinheitlichten Verhaltenstypus kleinbürgerlich-mittelständischer Art auf allen Lebensgebieten ausdrückt. Die soziale Zuordnung der Menschen wird heute in viel stärkerem Maße durch die arbeitsteiligen und großorganisatorisch-bürokratischen Produktions- und Verwaltungsformen bestimmt, so daß eine bestimmte Spannung des Menschen in seinen kleinräumigen, privaten Interessengruppierungen gegenüber der hohen Abstraktheit, Anonymität und kalten Disziplin der öffentlichen Ordnung, der Arbeitswelt und der verschiedenartigen Großorganisationen zur verhaltensführenden und entwicklungsleitenden dynamischen Gesetzlichkeit der industriellen Gesellschaft zu werden scheint. Durch die Versachlichung und damit <Entfremdung>, denen der Mensch in den modernen Arbeitsformen und in den Organisationen der öffentlichen Ordnung ausgesetzt ist, verlagert sich das von ihm als personhaft und ihm zugehörig empfundene Verhalten immer mehr von diesen Bereichen seines Lebens hinweg in ein kompensatorisch-privates Tätigkeitsfeld: in seine Freizeit. Diese wird zum Orientierungssystem der Privatheit und Personhaftigkeit des Menschen ausgebaut, hier sucht er sein soziales Geltungs- und Rangstreben zu erfüllen, hier befriedigt er die Sinnansprüche und Initiative seines Daseins, die ihm die Abhängigkeit und sachliche Eingespanntheit der Arbeitswelt verwehrt. (Fs) (notabene)
119b Allerdings gerät nun diese Freizeit weitgehend unter das Diktat einer anderen industriegesellschaftlichen Gesetzlichkeit: unter die Herrschaft der Konsumbedürfnisse. Indem die Kompensation für den Mangel an Sinnerfüllung, Daseinsfreude und Persongehalt der Arbeit im Verbrauchergenuß der Freizeit gefunden wird, unterwirft sich der Mensch unversehens wieder einem zweiten <Entfremdungs>- und Dirigierungsprozeß der industriellen Organisation: der Enthemmung seiner Konsumbedürfnisse, die in der systematischen und künstlichen Stimulierung dauernd veränderbarer und unendlich zu steigernder Verbraucherbedürfnisse von Seiten der Produktions- und Darbietungsorganisationen besteht. Der Mensch unserer Gesellschaft tritt in der Freizeit unter den Zwang und die Gesetzlichkeit des industriegesellschaftlichen Konsums, wie er in der Arbeitszeit unter dem Zwange der industriell-bürokratischen Produktionsform steht; beide wirken gleichermaßen entpersönlichend und verhaltensnivellierend. Der beherrschende Einfluß dieser Konsumbestimmtheit des modernen Lebens auf die gesamte Verhaltens- und Gesellschaftsstruktur der gegenwärtigen westlichen Zivilisation ist schon verschiedentlich betont worden (vgl. Gehlen 55 g, Habermas 82 u. a.) ; neuerdings hat vor allem D. Riesman (90) in einer einfallsreichen Darstellung des amerikanischen Charakters diese Konsumorientiertheit als die wesentlichste Grundlage des gesamten zeittypischen Verhaltenssystems dargestellt. (Fs)
120a In den Einfluß dieser vom Freizeitraum des modernen Daseins ausgehenden Konsumgewohnheiten und Verbraucherhaltungen gerät nun auch das sexuelle Verhalten und erhält von dort seine charakteristischste zeittypische Prägung. Allerdings bedurfte diese Angleichung des sexuell-erotischen Habitus an die modernen Konsumverhaltensweisen sehr gewichtiger Voraussetzungen, unter denen die umfassende Verbreitung der empfängnisverhütenden Mittel und Praktiken sowie die medizinischen Fortschritte in der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und anderer gesundheitlicher Gefahren an erster Stelle stehen. Ihre Auswirkung schuf überhaupt erst die Grundlage dafür, daß sich soziale Strömungen wie die allgemeine Liberalität gegenüber dem privaten Bereich, die Gleichberechtigungsforderung der Frau auch auf erotischem Gebiet, die geschlechtliche Neutralisierung der modernen Arbeitsbedingungen und damit das Auftauchen der Frau als Konkurrentin des Mannes in der industriell-bürokratischen Arbeitswelt durchsetzen konnten. Erst wenn eine geschlechtliche Vereinigung zweier Menschen nicht mehr von der Wahrscheinlichkeit der Empfängnis begleitet ist, hört sie auf, eine primär soziale und kollektive Angelegenheit zu sein und wird privat in dem Sinne, den z. B. die moderne Psychologie der Liebe und Sexualität ohne weiteres unterlegt. Erst diese Entwicklung hat neben den sozialen Folgen auch die Chancen der Gefahr und des Leidens in der Sexualität so verringert, daß sie ihren vieltausendjährigen zwiegesichtigen Charakter, Daseinserhöhung und -bedrohung zugleich zu sein, fast verloren zu haben scheint zugunsten einer Bändigung und Verharmlosung zum bloßen Genuß. In diesem Vorgange liegt auch die Schwäche der Moral gegenüber dem Geschlechtlichen heute mit begründet: Die Hemmungen und Sanktionen, die gegenüber dieser in ihrer Eigenbedrohung gebändigten und sozial verhältnismäßig folgenarm gewordenen Sexualität aufgebracht werden können, bestehen eben nur noch in den kaum noch durch aufdringliche Tatsachenfolgen gestützten rein sittlichen Grundsätzen. (Vgl. dazu Kardiner, 60 b, S. 52 f und Harding, 83, S. 229 f)
121a Damit sind wir aber bereits bei einem der wesentlichsten Züge der Konsumhaltung im Geschlechtlichen: <Genuß ohne Reue>, dieser Werbeslogan einer Filterzigarettenfabrik, in dem die Rücksicht auf gesundheitliches Skrupulantentum mit der Anerkennung des Bedürfnisses auf nervöse Erregtheit klug kombiniert wird, kennzeichnet ohne Zweifel ebenso das allgemeine Wunschbild und weitgehend auch die Praxis des sexuellen Verkehrs in der modernen westlichen Zivilisation. Die Forderung auf Risikolosigkeit und der pure Genußstandpunkt des Verhaltens setzen sich dabei gegenseitig voraus. (Fs)
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