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Autor: Schelsky, Helmut

Buch: Soziologie der Sexualität

Titel: Soziologie der Sexualität

Stichwort: Sexualität: Psychologisierung; Arnold Gehlen; Problem der Anpassung

Kurzinhalt: ... Formel <gleichzeitige Entstehung und Entdeckung der Seele aus dem Verfall der sozialen Formen> ...

Textausschnitt: 2. Die Psychologisierung der Sexualität

107a Im Vergleich mit dem Liebesleben der Vergangenheit scheint das unserer Gegenwart vor allem durch eine größere Freiheit gekennzeichnet zu sein. Diese Feststellung drückt sich in durchaus gegensätzlichen Bewertungen aus: Einmal meint man damit im kritischen Sinne einen Verfall bindender Sitten und Konventionen für die Liebes- und Geschlechtsbeziehungen, ihre Freistellung zur persönlichen Beliebigkeit, ja bis zur Korruption; zum anderen versteht man darunter die höhere Individualität und Gefühlsbetontheit des Liebesverhältnisses, die eben durch das Zurücktreten gesellschaftlicher und moralischer Konventionen und Gebote ermöglicht worden sind. Dieser in sich identische Tatbestand des Abbaues institutionalisierter und ritualisierter Verhaltensformen zugunsten einer größeren Freiheit innerer Stellungnahmen der Einzelperson stellt einen allgemeinen Vorgang in der modernen Triebgeschichte dar: Auf dem Gebiet der Religion leitet die Reformation diese Wandlung der in Tradition, Institution und Ritual wurzelnden Glaubensformen zu größerer innerer Entscheidungsvielfältigkeit und Selbstreflektiertheit ein, die bis zu dem institutionslos verinnerlichten Subjektivismus moderner Sektengläubigkeit oder des Freidenkertums führt. Später - aber davon nicht unabhängig - emanzipiert sich auch die Liebe der Geschlechter von ihren traditionellen und institutionellen Ordnungen und erfährt ihr <wahres> Wesen mehr und mehr in den subjektiven Befindlichkeiten einer sich selbst spiegelnden und dramatisierenden Innenwelt der Person. Die allen Konventionen feindliche Liebesauffassung der ästhetischen Kreise der Romantik wird im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer mehr zum Gemeingut, nicht zuletzt eben durch die romantische Literatur, und gipfelt schließlich in der völligen Privatisierung der Seele in ihren Liebeserlebnissen und deren reflektiertem Verständnis durch die Psychologie. (Fs)

108a Arnold Gehlen hat diesen Vorgang in seiner Schrift <Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft> auf die zusammenfassende Formel <gleichzeitige Entstehung und Entdeckung der Seele aus dem Verfall der sozialen Formen> gebracht. Sein Gedankengang ist etwa dieser: In sozial hochdurchgeformten Gesellschaften ist der personale Kontakt der Menschen untereinander bis in das intimste Verhalten hinein gesellschaftlich kanalisiert und vorgeformt, in sozialen Ordnungen und Institutionen, Symbolen und genormten Akten untergebracht. Erst wenn die Institutionen diese vorgeformte und distanzierende Kommunikation nicht mehr leisten, begegnen sich die Menschen in der ganzen Breite ihrer unmittelbaren und natürlichen Person. <Die Hautnähe und Ungeniertheit des psychologisch Eigenschaftlichen> drängt sich in der Begegnung distanzlos auf. Indem sich die sozial ungeformten, zufälligen Naturen der Individuen gegenseitig reflektieren und <darin ihre Seele ebensowohl entdecken wie produzieren> geht die Entwicklung der Psychologie mit der Entstehung ihres Gegenstandes, des Seelischen selbst, parallel. Nicht mehr untergebracht und abgesättigt in stabilen Institutionen und Verhaltenskonstanten, schlagen die freigesetzten Bedürfnisse und Affekte des Menschen als Selbstreiz und Unruhe auf den Menschen zurück. <Die komplizierte Seele des modernen Menschen ist zum Teil eine Selbstverarbeitung heimatloser Sozialinstinkte.> (Fs)

Die erwähnte <Indiskretheit des Eigenschaftlichen, die eine Folge des Abbaus tradierter Zuchtformen und ihrerseits die Voraussetzung der Psychologie ist>, bringt Gehlen nun in Verbindung zu weiteren seelischen Merkmalen des modernen Menschen: der hohen Bewußtheit, der Dauerreflektiertheit und Selbstbeobachtung des Innenlebens, dem Mangel an direkten und naiven Affekten, der Gebrochenheit des Weltverhaltens, in summa der ganzen Raffinesse und Indirektheit der modernen Selbst- und Fremdinterpretationen, in denen <ein instinktives gegenseitiges Sich-nicht-Ernstnehmen ein nicht belangloser Bestandteil der Mischung der Atmosphäre ist.> <Die Raffinierung des auf sich selbst zurückgefallenen Innenlebens ist hoher Verfeinerung fähig, und es gibt schon viele Menschen, bei denen ein Gedanke oder ein Gefühl eo ipso nicht nur als Faktum, sondern dazu noch als Selbstreiz auftritt, auf den sie selbst wiederum reagieren. Der verwickelte Zerfall der Ideale und Wertgefühle, wie er im Innern des Einzelnen den ungeheueren Umwälzungen entspricht, hat also seine eigene Produktivität in der staunenswerten Differenzierung des Psychischen ...» Gehlen zitiert den geistreichen Ausspruch der Madame de Stael (De l'Allemagne II/28) : <Tous les voiles du coeur ont été déchirés. Les anciens n'auraient jamais fait ainsi de leur âme un sujet de fictions.> Dieser Kultivierung der Seele entspricht aber die soziale Ausgesetztheit: <Der Mangel an stabilen Institutionen, die ja im Grunde vorgeformte und sozial eingewöhnte Entscheidungen sind, überbeansprucht die Entschlußfähigkeit, aber auch die Entschlußwilligkeit des Menschen und macht ihn, die Bastionen der Gewohnheit schleifend, schutzlos vor den zufälligen nächsten Reizen. Weil nun an diese Reize ebenfalls Interessen, Vorteile und Bedürfnisse anwachsen, sich auch endlich irgendein inneres Gleichgewicht einpendelt, so kommen Charaktere zustande, die ihre Eigenschaften nur deshalb haben, weil sich kein Anlaß fand, sie aufzugeben> (sämtl. Zit. 5; a, S. 15-17).

109a Es bedarf keiner großen Interpretation, um in dieser Skizze einer soziologischen <Kulturgeschichte der Seele> das Schicksal der modernen Sexualitäts- und Liebeswirklichkeit und ihres menschlichen Selbstverständnisses im letzten Jahrhundert wiederzuerkennen: Die Liebe als ein <sujet de fiction> ist fast wörtlich die Formel Stendhals, die als die Forderung auf ein natürliches Gefühlsrecht jedes Menschen dann durch den Roman, das Schauspiel, durch Oper und Operette und schließlich durch Kino und Kitschroman zu einer der tragenden Selbstverständlichkeiten unseres kulturellen Zustandes gemacht wird. Die Bewußtheit, Raffinesse und Selbstbespiegelung der Liebeserlebnisse wächst in dem Maße, wie Heirat und Familie ihre gesamtgesellschaftliche Funktion und Bedeutung verlieren und in das bloß Private abgedrängt werden. Der Prozeß der analytischen Erkenntnis der Liebe und Sexualität, die wachsende Distanzlosigkeit des Menschen zu sich selbst, wird unendlich vorwärts getrieben, vorläufig gipfelnd in dem pansexuellen Menschenbild einer popularisierten Libido-Theorie und der Orgasmus-Statistik Kinseys. In immer erneut gewechselten Liebesverhältnissen wird die Sexualität zum Medium einer menschlichen Entdistanzierungssucht schlechthin gemacht. Und wo zeigt sich die von Gehlen charakterisierte Triebunruhe und affektive Unstetigkeit, diese dauernde Selbstmobilisierung von Reizen, denen man dann schutzlos, d. h. disziplin- und wahllos, preisgegeben ist, deutlicher als im Verhältnis des modernen Menschen zu seiner Sexualität? Wie sich unter dieser unverarbeiteten Reizüberflutung die Zufallsnatur der Charakterbildung des Menschen ergibt, so kann man auch von seinen Liebes- und Geschlechtsbeziehungen sagen, daß die meisten keinen anderen Grund haben als den, daß sich eben die Gelegenheit dazu bot. (Fs)

109b Diese aus Institutionsabbau und Konventionsverlust sich ergebende Distanzlosigkeit und Verhaltenswillkür des Menschen zu sich selbst und zu anderen läßt korrespondierend das Problem der Anpassung des Menschen in ungeahnter Schärfe entstehen: Die bewußte Planung der Integration seiner Triebe und Affekte in die - willkürlich veränderbare - Konzeption einer Person, die ständig erneut organisierte Einfügung des Menschen in eine - selbst dauernd wechselnde - soziale Umwelt werden, nicht zuletzt auch auf sexuellem Gebiet, zu den Forderungen des Tages. Psychotherapie und psychologische Seelsorge, bewußte Sexualerziehung und organisierte Eheberatung, birth-control- und child-guidance clinics, Gruppenpädagogik und human relations, die ganze Apparatur der modernen Seelentechnik oder des <social engineering> tritt an die Stelle der schwindenden Institutions- und Konventionsleistungen in der Formierung der menschlichen Triebwelt. Eine moderne Tiefenpsychologin sagt geradezu: <Die Forderung nach Bewußtheit und einer höheren Wertung der Realität steht heute als führendes Prinzip anstelle der überlebten 'Unterwerfung unter das sittliche Gesetz' ... Ein neuer Knigge im Sinne der analytischen Psychologie sollte geschrieben werden !> (Esther Harding, 83, S. 307, 316). So steht die Psychologie als Erziehungs-, Behandlungs- und Planungspraxis vor dem Tatbestand des mit ihr als Deutungs- und Selbstverständnisweise erst befreiten, d. h. komplizierten und desintegrierten menschlichen Trieb- und Verhaltensgefüges. (Fs)

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