Autor: Sertillanges A. D. (Gilbert) Buch: Der heilige Thomas von Aquin Titel: Der heilige Summa von Aquin Stichwort: Beziehung (relatio): 3 Arten; Wirklichkeit der Seinsweise der Beziehung <- Ordnung des Kosmos; Kurzinhalt: ... wenn man die Beziehung als 'wirklich' erklärt, so will man sie damit nicht in törichter Weise in die Reihe der 'Dinge' stellen. Denn auch damit würde man ja die Ordnung der Dinge, die man gerade retten möchte, zerstören, weil ... Textausschnitt: Die Beziehung
352 Man weiß zur Genüge, welche Streitigkeiten innerhalb und außerhalb der Scholastik die Frage nach der Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit der Beziehung hervorgerufen hat. Ist die Beziehung eine reine Schöpfung unseres Geistes, oder hat sie eine 'Grundlage'? Und wenn ja, gibt dann diese Grundlage der Beziehung ihr ganzes Sein? Oder anders ausgedrückt: Muß man annehmen, daß das Wirkliche so weit reiche, 'daß jenes, dessen ganzes Sein in einem Sichverhalten zu einem andern besteht' [cuius totum esse se habet ad aliud], noch in ihm Platz hat? (116; Fs)
353 In dieser verwickelten Frage nimmt Thomas jene Stellung ein, die ihm sein System von vornherein vorschreibt. Es ist klar, daß es Beziehungen 'des bloßen Verstandes' gibt, das heißt, Beziehungen, die wir allein in unserm Denken zwischen den Dingen herstellen. (116f; Fs)
354 So ist die Beziehung des als Art betrachteten Menschen zu dem als Gattung betrachteten Sinnenwesen eine Beziehung des bloßen Denkens. Wenn man aber zum Beispiel sagt, daß ein Ding aus einem andern als seinem Prinzip hervorgeht, so kann es nicht anders sein, als daß beide: das, was hervorgeht, und das, aus dem es hervorgeht, einer gemeinsamen Ordnung angehören, und daß also die zwischen ihnen bestehende Beziehung nicht bloß eine 'gedachte', sondern eine 'wirkliche' Beziehung ist1. (117; Fs)
355 In einem grundlegenden Artikel2 ordnet Thomas die verschiedenen Arten der Beziehung methodisch unter dem Gesichtspunkt der ihnen nach seiner Meinung zukommenden Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit. Da die Beziehung zwei Glieder erfordert, sind im Hinblick auf ihr Wirklichsein oder ihr Gedachtsein drei Fälle möglich. (117; Fs)
356 Im ersten Fall ist die Beziehung beider Teile rein im Denken, so wenn man sagt: Etwas ist identisch mit sich selbst. Denn die hier vollzogene Verdoppelung ist das Werk des reinen Denkens. So ist es auch in allen Fällen einer Beziehung zwischen dem Sein und dem Nichtsein, denn das Nichtsein, das nicht ist, muß von unserm Denken verwirklicht werden, ehe es in Beziehung zu dem andern Glied gesetzt werden kann; ferner bei den Beziehungen zwischen gedachten Wesenheiten oder einem gedachten Sein und einem wirklichen Sein. Die Gattungen, Arten und Wesensbestimmungen sind somit das Feld rein gedachter Beziehungen. (117; Fs)
357 Zur zweiten Klasse gehören Beziehungen, die sich auf beiden Seiten als wirklich darstellen, wenn nämlich die Beziehung zwischen zwei Wesen sich aus etwas ergibt, was beiden wirklich zu kommt. Das ist der Fall bei allen Beziehungen, die mit der Quantität zu tun haben, wie zum Beispiel das Große und das Kleine, das Doppelte und die Hälfte usw. Denn die Quantität, die hier die Grundlage der Beziehungen ist, ist auf beiden Seiten wirklich. Das gleiche ist von den Beziehungen zu sagen, die aus einem Tun und einem Empfangen sich ergeben; dahin gehören die Beziehung zwischen dem Bewegenden und dem Bewegten, zwischen Vater und Sohn und ähnliche. (117f; Fs)
358 Im dritten Fall endlich kann die Beziehung auf der einen Seite wirklich, auf der andern bloß gedacht sein; das ist allemal dann der Fall, wenn die beiden Bezugspunkte nicht derselben Ordnung angehören. So stehn die Sinne und der Geist in Beziehung zum sinnlich oder geistig Erkennbaren; diese aber als Naturwirklichkeiten stehn außerhalb der geistigen oder sinnlichen Ordnung, und darum ist im Verstand und der sinnlichen Wahrnehmung die Beziehung zum erkannten Gegenstand wirklich, insofern beide wirklich darauf hingeordnet sind, die Dinge zu erkennen und wahrzunehmen; die Dinge selbst aber - in sich betrachtet - liegen außerhalb dieser Ordnung; daher gibt es in ihnen auch keine wirkliche Beziehung auf die geistige und sinnliche Erkenntnis, sondern es gibt eine Beziehung allein nach unserer Art des Begreifens, insofern die Vernunft sie sich als Zielpunkte der Beziehungen des Geistes und der Sinne vorstellt. So wird man auch von einer Säule nicht sagen, daß sie rechts ist, außer in bezug auf ein lebendiges Wesen, da rechts und links nur auf dieses bezogen werden kann; das lebendige Wesen ist also das Subjekt der in Frage stehenden Beziehung, nicht aber die Säule. Der wichtigste Fall dieser letzten Kategorie betrifft Gott. (118; Fs)
359 Gott übersteigt jede Ordnung der Geschöpfe1; alles ist auf ihn als seinen ersten und vollständigen Ursprung in einer Unzahl von Beziehungen hingeordnet; er selber aber ist auf nichts hingeordnet; daher ist es klar, daß die von unserm Geist zwischen Gott und seinem Werk aufgestellten Beziehungen auf unserer Seite wohl wirklich sind, auf der Seite Gottes dagegen nicht; er bleibt der 'Große, von allem Geschiedene', gegenüber dem alles, was man sagen kann, nur Wert hat als Ausdruck dessen, was wir und alle Geschöpfe in Beziehung zu Ihm sind. (118; Fs)
360 Welches ist nun die Seinsweise dieses seltsamen 'Bezogen-Seins', das wir nicht zu einem vollen Sein machen können, das wir aber ins Nichts oder bloß in das Reich des Geistes zu versetzen uns in gleicher Weise weigern? Thomas gibt die Antwort in Ausdrücken, die heute als überrealistisch erscheinen könnten; aber die Sprache ist hier ein grobes Werkzeug: durch die sinnliche Vorstellung und zunächst für sie geformt, vermag sie das Abstrakte nur sehr schlecht auszudrücken, besonders auf der Stufe, auf der es uns hier begegnet. Darauf ist vielleicht der Spott zu rückzuführen, den sich die 'realen Beziehungen' der Thomisten unverdienterweise zugezogen haben. (118f; Fs)
361 Thomas unterscheidet bei der wirklichen Beziehung ihr Sein, insofern sie akzidentelle Wirklichkeit ist, und ihre besondere Wesenheit [propria ratio], die sie zu einem Akzidenz von dieser Art macht. Unter dem ersten Gesichtspunkt muß man die Beziehung beurteilen wie jedes Akzidenz, dem es eigen ist, einem Träger in der Form eines bestimmenden Elementes anzuhaften. Unter dem zweiten dagegen spielt die Beziehung eine besondere Rolle; denn andere Akzidenzien - wie die Ausdehnung oder die Beschaffenheiten - bestimmen die Substanz in sich selbst, sie üben eine 'innere' Funktion aus: eine Funktion des Maßes, beziehungsweise der Ordnung; die Beziehung dagegen hat ihren Grund in einer 'äußeren' Ordnung, die sie den Dingen zubringt, ohne sie jedoch in sich zu berühren2; sie 'verknüpft', sie 'bezieht'. Bildlich könnte man sagen: sie haftet - unter diesem Gesichtspunkt - nicht sowohl an dem Träger, als an dem 'Kontakt', [adsistens], insofern sie ein Glied mit einem andern verknüpft [quodammodo contingentem ipsam rem relatam prout ab ea tendit in alterum]3. (119; Fs)
362 Es liegt also hier eine Art angelehnter, 'berührender' Wirklichkeit vor, die nicht auf besonders festen Füßen zu stehn scheint; ihre Teilnahme am Sein erscheint entweder schwer über trieben oder völlig unbegreiflich. Man kommt über diese Schwierigkeiten hinweg, wenn man sich darüber klar wird, daß Thomas, wenn er so spricht, nicht daran denkt, irgend etwas zu 'erklären'. Es sind Worte für Kinder, die er gebraucht [manuductiones] ; der reife Mensch jedoch wird begreifen, daß, wenn das Sein hier wie überall geheimnisvoll sich verbirgt, dies kein Grund ist, eine seiner Seiten zu leugnen und gerade dem die Wirklichkeit abzusprechen, was das Beste in der Welt ist, nämlich der 'Ordnung'. (119; Fs)
363 Denn es ist zu beachten, daß hier - den von der Philosoplie des Thomas eingenommenen realistischen und objektivistischen Standpunkt vorausgesetzt - die Ordnung der Welt in Frage stellt1. Die Ordnung verwirklicht sich in vielfältigen Beziehungen; wenn eine jede von diesen nur abstrakt - nur eine Schöpfung des Geistes - ist, so wird auch die Ordnung des Ganzen und schließlich das Weltall selbst, das nur das Ergebnis dieser Ordnung, ist, selbst abstrakt sein; dann sind wir es, die ihm Bestand verleihen; dann wird der Mensch' das Maß der Dinge'. (119f; Fs) (notabene)
364 Wenn man dagegen will, daß das Universum in sich sei, und daß es Ordnung sei, so muß man die Wirklichkeit der Seinsweise der Beziehung zugeben; denn wenn die Dinge wirklich in Beziehung stehn, so müssen offensichtlich auch ihre Beziehungen wirklich sein - und zwar außerhalb des Geistes, wie außerhalb der Dinge selbst. Wenn man gesagt hat: dieser Körper ist wirklich warm, so muß man doch zugeben, daß irgendwie die Wärme eine Naturwirklichkeit ist. Es gibt nur wenige, die diese Notwendigkeit begreifen, weil es nur wenige gibt, die bis zu dem Punkt vordringen, an dem sich das Problem stellt, das heißt: bis zu jener ersten Gestaltung der Welt, wo nichts mehr unterstellt werden darf und keine heimliche und verschwiegene und unbewußte 'Voraussetzung' mehr im Spiele ist. (120; Fs) (notabene)
365 Wenn die Dinge einmal da sind, so stellt der physikalisch denkende Geist sich sogleich vor, daß sie Beziehung zueinander haben; doch das ist eine Täuschung; das Ding ist etwas anderes als die Beziehung; wenn jenes diese nach sich zieht, so heißt das nicht ohne weiteres, daß es sie einschließt, und wenn unser Geist - Pascal würde sagen: freventlicherweise - daran geht, die einzelnen Bestandteile der ganzen Mischung des Universums aufzuzählen, so kann er nicht an der Beziehung vorbeigehn, als ob diese ganz von selbst entstünde, oder als ob das Ganze, das heißt die Bestandteile des Ganzen, eben mit Hilfe der Ordnung 'das Ganze' bilden könnten, ohne daß die Ordnung selbst etwas wäre. (120; Fs)
366 Es gibt [wie wir gesehn haben] moderne Philosophen, die in der Ordnung und Beziehung die einzige Naturwirklichkeit sehn. Thomas steht nicht auf ihrer Seite; er hält es nicht für sinnvoll, den festen Grund der Dinge zu opfern, dadurch daß man die Substanz beiseite schafft oder auflöst, und ebenso unsere Ontologie zu schmälern, dadurch daß man das Akzidenz auf eine einzige grundlegende Seinsweise einschränkt. Aber was viele Philosophen überall sehn wollen, das findet er wenigstens irgedwo vor. Nach seiner Ansicht wäre es Unrecht, in seiner Lehre eine 'Materialisation' der Begriffe zu sehn: genau das Gegenteil ist der Fall. (120f; Fs)
367 Denn wenn man die Beziehung als 'wirklich' erklärt, so will man sie damit nicht in törichter Weise in die Reihe der 'Dinge' stellen. Denn auch damit würde man ja die Ordnung der Dinge, die man gerade retten möchte, zerstören, weil man damit eben die Ordnung selbst unter die Dinge zu versetzen versuchte, die man eigentlich ordnen will. Nein, wenn man so spricht, so muß man den Begriff des Seins so sehr erweitern, daß er noch mitumfaßt, was jenseits der wirklich gesetzten Dinge liegt. (121; Fs) (notabene)
368 Ist nicht selbst das Nicht-Sein in manches philosophische System eingeschlossen? Auch bei Thomas ist das ja unter den angegebenen Bedingungen der Fall2. Jedenfalls ist hier die Entscheidung weniger schwer. Man sagt: alles, was ist, ist; aber nicht ist alles, was ist, ein Seiendes. Kein Akzidenz ist Seiendes, und die Beziehung am allerwenigsten. Man weist nur die Auffassung zurück, als ob die Ordnung nichts wäre oder bloß eine Schöpfung unseres Geistes. (121; Fs) (notabene)
369 Die Ordnung ist - nicht allein, wenn wir sie einführen, um zu denken; sondern vor jeder Erfassung unsererseits ist sie in das Seinsganze derart eingebettet, daß es nicht bloß Tatsachen und Tatsachen, Dinge und Dinge gibt, sondern auch Verbindungen zwischen den Tatsachen, Verknüpfungen zwischen den Dingen, Verbin dungen und Verknüpfungen, die zwar in anderer Weise Anteil am Sein haben [aber darum nicht weniger] als jene. Und hierin sind ja schließlich alle einig, wenigstens solange man sie nicht fragt und dieser 'unwirklichen Wirklichkeit 'gegenüberstellt, die unbegreiflich und doch offenkundig ist, die unmöglich zu denken ist, wenn auch das Denken von ihr lebt und nicht davon lassen kann, sie zu erforschen3. (121; Fs) ____________________________
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