Autor: Leppin, Volker Buch: Wilhelm von Ockham Titel: Wilhelm von Ockham Stichwort: Pariser Lehrverurteilung (Tempier, 1277); Kluft: Philosophie - Theologie; Duns Scotus, Wilhelm von Ockham: Beschränkung der Philosophie Kurzinhalt: Entweder musste man weiter wie Thomas fortfahren, Aristoteles zurechtzubiegen - obwohl die verurteilten Thesen stets an die immanenten Möglichkeiten des aristotelischen Systems erinnerten -, oder man musste vonseiten der Theologie Modelle entwerfen, ... Textausschnitt: 29a Damit konnte er aber nicht verhindern, dass die Polemik in Predigten und Traktaten auch die Kirchenbehörde auf den Plan rief. Schon am 10. Dezember 1270 kam es zu einer ersten Verurteilung durch Tempier1, und dies war nur der Auftakt für weiteres Vorgehen des Bischofs gegen die Philosophen. Am 23. November 1276 wurde Siger vom Inquisitor Simon du Val für den 18. Januar 1277 zu einer Gerichtsverhandlung vorgeladen2, vermutlich entzog er sich wie auch Boethius durch Flucht. (Fs)
29b Der entscheidende Schlag erfolgte aber am 7. März 1277: Tempier verurteilte 219 Thesen, welche die von der Gruppe um Siger ausgehenden Gefahren skizzierten, in deren Schriften aber nicht durchweg nachweisbar sind.1 Das Dokument wirkt recht ungeordnet, obwohl es von einer gelehrten Kommission vorbereitet wurde, zu deren bedeutendsten Köpfen der Pariser Theologieprofessor Heinrich von Gent (ca. 1217-1293) gehörte. Die Leitlinien der Verurteilung lassen sich trotz der etwas chaotischen Gliederung leicht erkennen: Neben der Abwehr einer Einheitsseele spielt vor allem die Kosmologie eine Rolle. Es geht dabei nicht nur um den Schöpfungsakt und das Verbot der ihm widerstreitenden Annahme einer Ewigkeit der Welt, sondern vor allem darum, dass das aristotelische Schalenmodell der Freiheit Gottes und des Menschen keinen ausreichenden Raum ließ: Immer wieder werden Sätze betont, die in irgendeiner Weise die Notwendigkeit des Geschehens in der Welt auszudrücken scheinen und damit den radikalsten Widerspruch zur biblischen Überzeugung von einem frei handelnden Gott darstellen. (Fs)
30a Diese Lehrverurteilung, so unbefriedigend sie denkerisch sein mag, ist doch ein entscheidendes Dokument der mittelalterlichen Geistesgeschichte, das die Voraussetzung für alle nun folgenden Entwicklungen des Denkens darstellt. Mit der Lehrverurteilung von 1277 war gewissermaßen ex negativo ein Modell markiert, das philosophisch denkbar, aber aus Gründen des christlichen Glaubens abzulehnen war. Dies gab für die zukünftigen Generationen von Denkern - und das hieß für all jene Engländer, die in Oxford im Schatten des Duns Scotus Theologie zu treiben lernten - die Regeln für den rechten Umgang mit Aristoteles vor. Entweder musste man weiter wie Thomas fortfahren, Aristoteles zurechtzubiegen - obwohl die verurteilten Thesen stets an die immanenten Möglichkeiten des aristotelischen Systems erinnerten -, oder man musste vonseiten der Theologie Modelle entwerfen, die den Status der Philosophie begrenzten und reduzierten, ohne doch gleich wie Bonaventura die Philosophie und Vernunft insgesamt zu diskriminieren. Diesen letzteren Weg ging vor allem Duns Scotus, und ihm folgend dann Wilhelm von Ockham. Ihm war das Dokument von Paris, auch wenn er es nicht sehr oft zitierte, durchaus bekannt - doch stand er schon längst nicht mehr in direktem Gegenüber hierzu, sondern hatte die neuen Denkwege von anderen, eben Duns Scotus, aber auch Heinrich von Gent, vermittelt bekommen. (Fs) (notabene) ____________________________
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