Autor: Leppin, Volker Buch: Wilhelm von Ockham Titel: Wilhelm von Ockham Stichwort: Lehrverurteilung von 1277 (Tempier); Christentum - Aristoteles (Averroes, Averroismus); De generatione animalium; (Vernunft) nous: göttlich, überindividuell; Siger von Brabant
Kurzinhalt: Hieraus hatte schon der arabische Aristotelesausleger Averroes (Ibn Rushd; 1126-1198) die Konsequenz gezogen, dass der nous, wenn er denn göttlich sei, einer für alle Menschen sei, dass ... Textausschnitt: 2. Das Pariser Erbe: die Lehrverurteilung von 1277
25c Das Denken des Duns Scotus selbst ist allerdings nur aufgrund einer sehr spezifischen Pariser Situation erklärbar, deren grundsätzliche Folgen für das Verhältnis von Theologie und Philosophie auch für das Oxforder Klima zur entscheidenden Rahmenbedingung wurden: "Häufige, von Glaubenseifer eingegebene Berichte bedeutender und vertrauenswürdiger Personen haben uns zur Kenntnis gebracht, dass einige Lehrer der freien Künste zu Paris die Grenzen ihrer eigenen Fakultät überschreiten und es wagen, die offensichtlichen und verabscheuungswürdigen Irrlehren oder vielmehr Eitelkeiten und falschen Hirngespinste, die in der Rolle beziehungsweise den Blättern enthalten sind, die diesem Schreiben beigefügt sind, als an der Universität behandlungswürdiges Problem abzuhandeln und zu disputieren."1 (Fs)
26a So heißt es in dem Prolog eines denkwürdigen Dokumentes. Unter dem Datum des 7. März 1277 ließ Etienne Tempier, Bischof von Paris, 219 Thesen verurteilen, von denen es hieß, sie seien an der artes-Fakultät der Pariser Universität gelehrt worden. Grenzüberschreitung war der Vorwurf, und später in dem Prolog hieß es noch: "Sie sagen ..., diese Irrlehren seien wahr im Sinne der Philosophie, aber nicht im Sinne des christlichen Glaubens, als gebe es zwei gegensätzliche Wahrheiten."2 Die Einheit des Wissens und mit ihr die Einheit der mittelalterlichen Universität also schienen dem Pariser Bischof gefährdet. (Fs) (notabene)
26b Es war nicht das erste Mal, dass die aristotelische Philosophie von einem Lehrverbot betroffen war - man kann sogar sagen, dass Aristoteles, seit man seine Ethik und seine Metaphysik für das christliche Europa wiederentdeckt hatte, unter permanenter kritischer Beobachtung stand. Durch die Konfrontation mit seinen materialen philosophischen Schriften war man zu einem merkwürdigen Autoritätenkonflikt gekommen. Eben der Philosoph, dem man in logischen Dingen zu folgen gewohnt war, hatte ein philosophisches System entworfen, das offenkundig von Christus keine Kenntnis besaß, ja möglicherweise mit dem christlichen Glauben überhaupt nicht vereinbar war. Diese Alternative ist es, die den Umgang mit Aristoteles in der Folgezeit markierte: entweder Akzeptanz als zwar heidnische, aber in Vernunftdingen doch geduldete Autorität oder Verwerfung als heidnischer Irrlehrer. (Fs)
26c Das große Verdienst des Albertus Magnus ist es, den Durchbruch für ein solides Aristotelesstudium an den Hochschulen gebracht zu haben.1 Doch war dieser Erfolg nicht von Dauer, ja er war vielleicht gerade deswegen möglich, weil Albertus Magnus auf eine systematische Lösung des Mit- oder Gegeneinanders von Aristoteles und christlicher Lehre verzichtet hatte: In seiner Kölner Lehrtätigkeit von 1248 bis 1254 hatte er sich ganz auf den Aristoteles beschränkt und auf im engeren Sinne theologische Vorlesungen verzichtet. Den systematischen Entwurf, der beides verband, bot erst sein Schüler Thomas von Aquin - doch erkaufte er die Harmonie von weltlich-heidnischer Vernunft und christlicher Wahrheit auch dadurch, dass er Aristoteles so umdeutete, dass er seinem theologischen System eingepasst wurde. (Fs)
27a Dieser Weg war für einen Theologen gangbar. Ganz anders musste sich das Problem für Wissenschaftler stellen, die die artes-Fakultät nicht als Durchgangsstation in die Welt hinein oder zu einem Studiengang an einer der höheren Fakultäten verstanden, sondern die sich die Lehre der artes zur Lebensaufgabe machten. Ihnen lag es weit weniger nahe als Thomas, die philosophischen Texte zu verfremden, sondern ihre Aufgabe an der artes-Fakultät bestand gerade darin, den Aristoteles so präzise wie möglich aufzuarbeiten. Es ist dieser Hintergrund, der in den Sechziger- und Siebzigerjahren des 13. Jahrhunderts für Aufsehen an der Pariser Universität sorgte. Die herausragenden Gestalten dieser philosophischen Richtung, die nicht mehr darstellte als einen vorurteilsfreien, konsequenten Aristotelismus, waren Boethius von Dacien (+ vor 1284) und Siger von Brabant (ca. 1240-ca. 1284). Ihr Bemühen um präzise Aristoteleslektüre musste unweigerlich auch zu den Punkten vorstoßen, an denen sich Aristoteles mit dem christlichen Weltbild nicht mehr ohne weiteres vereinbaren ließ. Das Modell seiner Kosmologie mit einer unendlichen Bewegung von Schalen war schwerlich mit den christlichen Schöpfungsvorstellungen nach Gen 1 oder gar Gen 2 zu verbinden, die weniger von einem unbewegten Beweger als von einem höchst aktiv in die Weltgeschehnisse hineinregierenden Gott sprachen und die auch keine Ewigkeit der Welt voraussetzten, sondern ihren Anfang in der Zeit: Für das Vakuum vor der Schöpfung (Gen 1,2 Vulgata: "terra autem erat inanis et vacua"; hebr.: Tohuwabohu) war im aristotelischen Denken kein Platz. Und auch im Blick auf die Erkenntnislehre Aristoteles' musste sich zumindest an den Unklarheiten, die der Stagirite hinterlassen hatte, Streit entzünden: Konsequent weitergedacht, musste seine Vorstellung von einer einheitlichen Vernunft zu einer Gefährdung der individuellen Seele des Menschen und damit seiner individuellen Verantwortlichkeit führen. In einer nicht ganz klaren Aussage hatte Aristoteles in seiner Schrift "De generatione animalium" die Göttlichkeit des nous, der Vernunft2, behauptet: "Es ist klar, dass diejenigen Prinzipien, deren Tätigkeit körperlich ist, unmöglich ohne einen Körper bestehen können ... Übrig bleibt also, dass nur der nous von außen eintritt und er allein göttlich ist. Denn mit seiner Tätigkeit ist keine körperliche Tätigkeit verbunden" (736b 22). Hieraus hatte schon der arabische Aristotelesausleger Averroes (Ibn Rushd; 1126-1198) die Konsequenz gezogen, dass der nous, wenn er denn göttlich sei, einer für alle Menschen sei, dass die Menschen also an dieser Vernunftseele lediglich partizipierten, sie selbst aber überindividuell sei. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen nun auch die konsequenten Aristoteliker in Paris, weswegen ihnen auch bald das Etikett des "Averroismus" angeheftet wurde, das noch bis in das vergangene Jahrhundert an ihnen klebte. Das Problem für die Zeitgenossen war, dass mit einer solchen Annahme einer überindividuellen Seele in der Tat, insofern auch die ethische Entscheidung des Menschen zumindest aus dem Zusammenwirken von Vernunft und Wille resultierte, das Personzentrum des Menschen entindividualisiert würde und sich damit auch die Frage individuellen Lohns und individueller Strafe neu stellen würde. (Fs) ____________________________
|