Autor: Beckmann, Jan P. Buch: Wilhelm von Ockham Titel: Wilhelm von Ockham Stichwort: Ockham; Omnipotenzprinzip (Blumenberg) - Nezessitarismus (Plato, Aristoteles); potentia absoluta - ordinata; zweifache Freiheit; Ockham - Augustinus; Kontingenz, Kontingenzprinzip Kurzinhalt: An die Stelle der augustinischen Erkenntniserweiterung durch Illumination setzt Ockham die Erkenntniskritik ...; daß die natürliche Vernunft infolge ihrer Endlichkeit die Welt zwar als rational, nicht aber als notwendig zu denken vermag ... Textausschnitt: 36a Ockhams Denken ist durchgängig und nachhaltig von drei Prinzipien geprägt: vom Omnipotenz-, vom Widerspruchs- und vom Ökonomie-Prinzip. Das Omnipotenzprinzip, auch Prinzip der göttlichen Allmacht genannt, besagt, daß Gott in seinem Handeln durch nichts und niemanden eingeschränkt ist. Er ist absolut frei, sein Tun und Lassen unterliegt keinerlei Notwendigkeit. Mit einer einzigen Ausnahme: Gott vermag nichts Widersprüchliches zu tun oder zu schaffen. Das Widerspruchsprinzip besagt, daß ein Sachverhalt nicht zugleich bestehen und nicht bestehen kann. Ob das Widerspruchsprinzip, das man genauer als Prinzip der Widerspruchsfreiheit bezeichnen muß, das Omnipotenzprinzip einschränkt, wird uns noch beschäftigen. Soviel aber sei schon jetzt festgestellt: Das Omnipotenzprinzip gilt naturgemäß nur für Gott, das Widerspruchsprinzip hingegen für Gott und Mensch. Das Ökonomieprinzip schließlich, wonach in der Erklärung von Sachverhalten nicht mehr Annahmen gemacht werden sollen, als unbedingt notwendig ist, gilt ausschließlich für den Menschen. Es würde Gottes Freiheit widersprechen, verpflichtete man ihn auf die Einhaltung des Ökonomieprinzips. Sehen wir uns diese drei Prinzipien und ihr inneres Verhältnis zueinander näher an. (Fs)
1. Das Omnipotenzprinzip
36b "Gott ist niemandes Schuldner" ("Deus nullius est debitor". OT VII, 45).1 Er hat die Welt und alles in ihr Befindliche aus freien Stücken geschaffen. Er hätte die Welt und jeden einzelnen Menschen oder Gegenstand auch anders erschaffen können, als er es de facto getan hat, ja, er besitzt die Freiheit, die Welt und alles in ihr Befindliche jederzeit zu ändern. Schrankenlose Allmacht? Nach Ockham gilt es hier zu unterscheiden: Notwendige Bedingung für die Existenz der Welt ist Gottes uneingeschränkte Allmacht ('potentia absoluta'), hinreichende Bedingung hingegen seine Macht, die Welt nach einem Ordnungskonzept zu schaffen ('potentia ordinata'). Man nennt dies die Theorie von Gottes "doppelter Allmacht",2 ein mißverständlicher Ausdruck. Gott verfügt nicht etwa über zweierlei Macht. Es ist vielmehr ein und dieselbe Allmacht, die sich auf eine zweifache Weise manifestiert: zum einen insofern, als Gott alles kann, zum zweiten insofern, als er sich innerhalb der unbeschränkten Möglichkeiten seines Könnens hinsichtlich der Ausübung seiner Allmacht in einer bestimmten Richtung oder Weise entscheiden kann. Dieser doppelten Manifestation göttlicher Allmacht entspricht eine doppelte Manifestation seiner Freiheit: Es ist die Freiheit der Wahl, und es ist die Freiheit der Entscheidung, seine Wahl auch in die Tat umzusetzen. Auch letzteres ist mißverstanden worden, so als habe Ockham die Welt einem 'Willkürgott' ausgeliefert. Diese seit der frühen Neuzeit gängige Deutung läßt sich leicht widerlegen, beruht sie doch auf der offensichtlichen Verwechslung von göttlicher Freiheit und der standpunktgebundenen menschlichen Beurteilung derselben. Der Mensch ist versucht, nur das für eine Manifestation von Freiheit gelten zu lassen, was er in den Grenzen seiner eigenen Vernunft und Freiheit als solches zu begreifen vermag. (Fs) (notabene)
37a Subtiler ist eine andere, in unseren Tagen vorgetragene Deutung: Wenn mit der tatsächlich vorhandenen Welt aus der Sicht Gottes nur eine der möglichen Welten erschaffen worden ist, wenn es zu ihrer Erschaffung keine wie auch immer geartete Notwendigkeit gegeben hat, ist dann nicht die Welt ein "pures Faktum verdinglichter Allmacht", Resultat des "unbefragbaren Willens" Gottes, dessen Entscheidung "unergründlich" ist?1 Wenn die Welt nur eine der möglichen Welten ist, noch dazu eine solche, die Gott jederzeit ändern kann, so scheint es keine "ratio creandi, keine Begründung für die Erschaffung der Welt"2 zu geben. In solchem Licht sieht Hans Blumenberg den Gott der Nominalisten; dieser stehe "mit seinem Werk in dem weitesten Horizont der widerspruchslosen Möglichkeiten, innerhalb dessen er wählt und verwirft, ohne daß das Resultat Rechenschaft über die Kriterien seines Willens ablegt".3 Philosophisch gesprochen würde dies bedeuten: Da die Welt nur eine der möglichen Welten ist, die Gott aufgrund seiner unendlichen Freiheit schaffen kann, gibt es für den Menschen keinerlei Garantie, daß seine Weltdeutung irgendwo sicheren Boden findet. Gegenüber der Allmacht Gottes, so wie Blumenberg sie versteht, nimmt sich die menschliche Vernunft wie Ohnmacht aus. (Fs)
38a Eine solche Deutung der göttlichen Allmacht übersieht ein Zweifaches: zum einen, daß Ockham mit dem Omnipotenzprinzip etwas ganz anderes beabsichtigt, nämlich den Nezessitarismus des antiken Denkens endgültig zu verabschieden, und zum zweiten, daß das Prinzip der göttlichen Allmacht durch ein weiteres Prinzip vor Willkür bewahrt wird, durch das Widerspruchsprinzip. Den Nezessitarismus Platons, für den "das Werden dieser Weltordnung ... einer Vereinigung von Notwendigkeit und Vernunft"1 entstammt, und des Aristoteles, für den "das Seiende, sobald es existiert, notwendig ist",2 mit Vernunftgründen überwunden zu haben, ist eine der großen intellektuellen Leistungen des Mittelalters. Ockham hat daran maßgeblichen Anteil. Veranlaßt wurde dieselbe fraglos durch den Offenbarungsglauben, welcher einen Anfang der Welt und alles in ihr Seienden in der Zeit lehrt. Für die Philosophie hat dies die doppelte Konsequenz, daß zum einen die Welt nicht mehr als ein in sich notwendiger Kosmos, sondern als eine der möglichen Welten im Universum angesehen wird, und zum zweiten, daß die menschliche Vernunft die Rationalität der Welt und ihrer Entstehung nur mehr in dem Maße aufdecken kann, in dem es gelingt, in den göttlichen Ideenplan Einblick zu gewinnen. (Fs) (notabene)
38b Wieweit dies möglich ist, ist im Mittelalter Gegenstand tiefgreifender Diskussion gewesen. Für Augustinus, der, in der platonisch-neuplatonischen Tradition stehend, die Ideen zu Gedanken Gottes transformiert hat und den Zugang hierzu durch göttliche Erleuchtung ('illuminatio') des menschlichen Verstandes ermöglicht sieht, führt der Weg von der Abwendung von der dinglichen Welt hin zum eigenen Selbst und von dort zum göttlichen Licht. Für Ockham hingegen, der die natürliche Vernunft in ihren eigenen Möglichkeiten auszuschreiten sucht, geht mit der prinzipiellen Rationalität von Gottes schöpferischer Freiheit nicht notwendig die vollständige Einsehbarkeit derselben seitens der menschlichen Vernunft einher. An die Stelle der augustinischen Erkenntniserweiterung durch Illumination setzt Ockham die Erkenntniskritik: In dem Augenblick, da die menschliche Vernunft die Welt nicht mehr als die notwendige Welt begreifen kann, sondern als eine der möglichen Welten denken muß, erfährt sich die menschliche Vernunft als eine solche, die neben ihren rationalen Möglichkeiten die eigene Begrenzung erkennen muß.1 (Fs) (notabene)
39a Mit dem zuletzt Gesagten sind wir an einer Nahtstelle zwischen theologischem und philosophischem Denken angelangt: Das Theologumenon von der göttlichen Allmacht hat seine philosophische Entsprechung in dem Umstand, daß die natürliche Vernunft infolge ihrer Endlichkeit die Welt zwar als rational, nicht aber als notwendig zu denken vermag. Im Unterschied zur theologischen ist diese Endlichkeit jedoch keine solche in der Zeit, sondern eine solche der kognitiven Potenz. Die natürliche Vernunft ist nicht schon deswegen endlich, weil sie an die biologische Existenz des Menschen in der Zeit gebunden ist, sondern weil sie in jedem Augenblick dieser Existenz eine geschaffene Vernunft ist und bleibt. Die Endlichkeit der Vernunft ist insoweit eine Folge der Kontingenz alles (außerhalb Gottes) Existierenden. Ockhams gesamtes Denken läßt sich als ein solches im Horizont der Kontingenz bezeichnen, und zwar insoweit, als es nach ihm außerhalb Gottes als dem einzigen notwendigen Sein keine notwendigen, sondern nur kontingente Dinge gibt. Das philosophische Pendant zum theologisch fundierten Omnipotenzprinzip ist mithin das Kontingenzprinzip. Es besagt: Was immer außerhalb Gottes ist: es kann nur als ein solches gedacht werden, das auch anders hätte ausfallen können, ja das jederzeit geändert werden kann. Hierzu bedarf es freilich der Erfüllung einer einzigen weiteren Bedingung, derjenigen der Widerspruchsfreiheit. (Fs) ____________________________
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