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Autor: Voegelin, Eric

Buch: Evangelium und Kultur

Titel: Evangelium und Kultur

Stichwort: Justin; Evangelium, Philosophie, logos; Seligpreisung (Armen im Geiste); Situation der Gläubigen heute

Kurzinhalt: Glaube als Philosophie in ihrem vollkommenen Zustand; logos, logos spermatikos; Arme im Geiste

Textausschnitt: 14a Ich habe die einleitenden Fragen auf das Problem von »Evangelium und Philosophie« zugespitzt und will nun zunächst zwei Beispiele vorstellen, ein frühes und eines aus jüngerer Zeit, in denen dieses Problem thematisch geworden ist. (Fs)

1 Indem das Evangelium der frühen ekklesia tou theou das Leben der Vernunft in der Gestalt der hellenistischen Philosophie in sich aufnahm, ist es zum christlichen Glauben der Kirche geworden. Hätte die Gemeinde des Evangeliums sich nicht auf die Kultur der Zeit eingelassen, indem sie sich auf deren Leben der Vernunft einließ, so wäre sie eine obskure Sekte geblieben und wahrscheinlich aus der Geschichte verschwunden; wir kennen das Schicksal des Judenchristentums. Das Leben der Vernunft seinerseits hatte einen Zustand erreicht, der von ungeduldigen jungen Menschen als Sackgasse empfunden wurde, und in dieser schien das Evangelium die Antwort auf die Suche des Philosophen nach Wahrheit anzubieten. (14; Fs) (notabene)


2 Die Einleitung zu Justins Dialoges belegt diese Situation. In der Vorstellung von Justin dem Märtyrer (gest. ca. 165) stellen Evangelium und Philosophie den Denker nicht vor die Wahl zwischen Alternativen, noch sind sie komplementäre Aspekte der Wahrheit, die der Denker zum Ganzen der Wahrheit verbinden müßte. Vielmehr ist in seiner Vorstellung der Logos des Evangeliums dasselbe WORT desselben Gottes wie der logos spermatikos der Philosophie, nur in einem späteren Stadium seiner geschichtlichen Manifestation. (14f; Fs) (notabene)

3 Der Logos war in der Welt von ihrer Erschaffung an wirksam; alle Menschen, die in Übereinstimmung mit der Vernunft gelebt haben, ob Griechen (Heraklit, Sokrates, Platon) oder Barbaren (Abraham, Elias), waren in gewissem Sinne Christen (Apol. I 46). Deshalb ist christlicher Glaube nicht eine Alternative zur Philosophie, sondern er ist selbst Philosophie in ihrem vollkommenen Zustand. Die Geschichte des Logos kommt zu ihrer Erfüllung durch die Inkarnation des WORTES in Christus. Für Justin ist der Unterschied zwischen Evangelium und Philosophie eine Angelegenheit aufeinanderfolgender Stadien in der Geschichte der Vernunft. (Fs)

15a Mit dieser frühen Darstellung des Problems vor Augen wollen wir nun eine Äußerung aus jüngerer Zeit zu diesem Thema untersuchen. Ich entnehme sie aus Der Neue Katechismus von 1966, herausgegeben im Auftrag der niederländischen Bischöfe und meist als Holländischer Katechismus bezeichnet. Das Einleitungskapitel trägt den Titel »Der fragende Mensch«, und gleich auf der ersten Seite finden wir folgenden Passus:
»Dieses Buch [...] stellt an den Anfang die Frage, was der Sinn der Tatsache ist, daß wir existieren. Das soll nicht etwa heißen, daß wir von Anfang an einen nichtchristlichen Standpunkt einnehmen. Es bedeutet schlicht und einfach, daß auch wir als Christen Menschen mit fragendem Geist sind. Wir müssen immer bereit und fähig sein zu erklären, auf welche Weise unser Glaube die Antwort auf die Frage unserer Existenz ist.«1

5 "Obwohl diesem Passus der letzte Schliff fehlt, trifft er philosophisch den entscheidenden Punkt sehr genau. Seine etwas unbeholfene Bemühtheit wirft ein helles Licht auf die Schwierigkeiten, in denen sich die Kirchen heute befinden. Bemerkenswert ist vor allem, welche Schwierigkeit die Kirche mit ihren eigenen Gläubigen hat, die Christen sein wollen um den Preis ihrer menschlichen Natur. Justin machte sich auf den Weg mit suchendem Herzen und ließ seine Suche, nachdem er die philosophischen Schulen seiner Zeit geprüft hatte, in der Wahrheit des Evangeliums zur Ruhe kommen. (16; Fs)

6 Heute ist die Situation gerade umgekehrt: Die Gläubigen sind zur Ruhe gekommen in einem Zustand des Glaubens, in dem keine Fragen mehr gestellt werden. Ihr geistiger Stoffwechsel muß erst durch die Mahnung in Gang gebracht werden, daß der Mensch eigentlich ein Fragender ist, daß der Gläubige, der nicht in der Lage ist zu erklären, inwiefern sein Glaube eine Antwort auf das Rätsel der Existenz darstellt, vielleicht ein 'guter Christ' ist, aber ganz sicher ein ziemlich fragwürdiger Mensch. Und wir können diese Mahnung ergänzen, indem wir vorsichtig daran erinnern, daß weder Jesus noch seine Jünger, an die er seine Worte richtete, schon wußten, daß sie Christen sind. Das Evangelium verkündete seine Verheißung nicht etwa den Christen, sondern den Armen im Geist, das heißt denen, deren Geist auf der Suche ist, wenn auch auf einem kulturell weniger anspruchsvollen Niveau als dem Justins. Hinter dem zitierten Passus verbirgt sich der Konflikt nicht zwischen Evangelium und Philosophie, sondern zwischen dem Evangelium und seiner Inbesitznahme als Dogma, das keine Fragen mehr zuläßt. Die Verfasser des Katechismus nehmen diesen Konflikt nicht auf die leichte Schulter. Sie sehen den Widerstand voraus, der sich ihrem Versuch entgegenstellen wird, die gemeinsame Natur der Menschen darin zu finden, daß sie auf der Suche nach dem Sinn der Existenz sind; und sie schützen sich gegen allzu eilfertige Mißverständnisse, indem sie dem Leser versichern, sie hätten nicht die Absicht, »einen nichtchristlichen Standpunkt einzunehmen«. Nehmen wir an, sie hätten jeden Satz, den sie geschrieben haben, sorgfältig abgewogen, dann enthüllt diese defensive Redeweise ein Milieu, in dem es nicht üblich ist, Fragen zu stellen und in dem das Wesen des Evangeliums als einer Antwort durch seine Verhärtung zu einer in sich abgeschlossenen Lehre so sehr verdunkelt ist, daß es als »nichtchristlicher Standpunkt« verdächtigt werden kann, die Frage zu stellen, auf die das Evangelium eine Antwort sein will. Wenn die Lage aber wirklich so ist, dann haben die Verfasser in der Tat allen Grund zur Beunruhigung. Denn das Evangelium als Lehre, die man annehmen kann und dadurch gerettet wird, oder die man läßt und dadurch verdammt ist, ein solches Evangelium ist ein toter Buchstabe. Es wird bei Menschen mit suchendem Herzen außerhalb der Kirche auf Gleichgültigkeit, wenn nicht gar auf Verachtung stoßen, und innerhalb der Kirche die Unruhe des Gläubigen hervorrufen, der unchristlich genug ist, ein fragender Mensch zu sein. (Fs)

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