Autor: Rahner, Karl Buch: Geist in Welt Titel: Geist in Welt Stichwort: § 2. Die Anzeigen der abstraktiven reditio in se ipsum; Nachweis bei Thomas; concretio, complexio, complexum (Urteil); Kurzinhalt: Der Nachweis, daß diese gegebene Entwicklung der thomistischen Auffassung entspricht, ist nun noch kurz nachzuholen Textausschnitt: 86a Um den Zug der Entwicklung nicht durch eine mühsame Textinterpretation der thomistischen Aussagen zu diesen Fragen zu stören, wurde bisher ein Eingehen auf Thomastexte unterlassen. Der Nachweis, daß diese gegebene Entwicklung der thomistischen Auffassung entspricht, ist nun noch kurz nachzuholen. (Fs)
86b Der Begriff der concretio bei Thomas1. Sachlich verbarg sich dieser Begriff schon in der ganzen Entwicklung, die von dem Wesen der Sinnlichkeit nach Thomas gegeben wurde. Die Sinnlichkeit ist eine immer schon vollzogene concretio, die darum den Vollzug selber nicht erfassen kann. Denn Sinnlichkeit ist das Beisichsein einer Seinswirklichkeit (forma) in ihrer Hingegebenheit an das andere der materia, insofern sie Form eines suppositum der materia ist; sie kann also eine trennende Hinbeziehung der forma auf das suppositum nicht zur Gegebenheit bringen. So erkennt die Sinnlichkeit "materialiter et concrete"2 und ist darum nur Erkenntnis des Einzelnen. Visus nullo modo potest in abstractione cognoscere id, quod in concretione cognoscit3. Insofern die Subjekt und Objekt trennende Rückkunft des Subjekts auf sich selbst, die abstractio immer bei dem ungeschiedenen Beim-andern-Sein der Sinnlichkeit beginnt, kann der Mensch das bei der Rückkunft mitgenommene abstrahierte Wissen nicht vollständig von seiner Beziehung auf das sinnlich Gegebene lösen, in dem es immer schon konkretisiert war. So ist das Denken ein "apprehendere ... concretum in abstractione4" als eine Handlung. Der Mensch kann sein abstraktes Wissen, soll es gegenständlich werden, nur in einer konkretisierenden Synthesis, in einem "suppositum", "subjectum" zum Stehen bringen. Intellectus noster quidquid signicat ut subsistens, significat in concretione5. Das Bezeichnen eines Gegenständlichen, in dem das Erkennen des Gegenstandes als solchen habhaft werden soll, ist ein significare in concretione, d. h. die Bezeichnung eines compositum, insofern sie die Synthesis ist aus einem "quo aliquid est", aus einer "forma", einem "aliquid, quod inest" und einem "suppositum", einem "aliquid quod subicitur", einem "subjectum"6, Darum gilt: Quod significatur concretive, significatur ut per se existens ut homo vel album ... quod significatur in abstracto, significatur per modum formae7. Daher läßt sich ein reales Ding (res subsistens) an sich auch nur mit einem "nomen concretum" {87} bezeichnen (Gott, nicht Gottheit, Tier, nicht Sinnlichkeit usw.)8. So ist Tier die Bezeichnung für die konkretisierte Sinnlichkeit: animal sumitur a natura sensitiva per modum concretionis9. Aus dem früher über die Sinnlichkeit Gesagten ergibt sich von selbst, daß den materiellen Dingen einschließlich der Sinnlichkeit die immer schon vollzogene concretio als ontologisches Prädikat zukommt, und daß die concretio als Vollzug Auseichnung unseres Denkens ist, sich aber in ihrer Notwendigkeit für unser Denken von der Sinnlichkeit herleitet10. (Fs)
87a Die complexio bei Thomas. Thomas unterscheidet im Gewußten incomplexa (indivisibilia) und complexa. Incomplexa sind z. B. Haus, Heer, Mensch, der Inhalt einer Definition usw.1. Es wird schon daraus allein klar, daß die concreta, von denen eben die Rede war, zu den incomplexa gehören, daß also die konkretisierende und die affirmative Synthesis nicht dasselbe sind. Das complexum ist ein enuntiabile2, ein Urteil. Der Mensch erkennt immer "secundum quandam complexionem"3. Diese complexio geschieht "per affirmationem vel negationem", in einer Urteilsbejahung oder Urteilsverneinung. Warum ein Urteil und seine Bejahung als Synthesis (complexio) aufgefaßt werden muß, und zwar als solche, die nicht mit der concretio zusammenfällt, wird bei Thomas auch deutlich: das complexum entsteht durch eine "comparatio incomplexi (also des schon konkretisierten Allgemeinen!) ad rem", durch eine Synthesis des konkretisierten Allgemeinen mit dem bestimmten Ansich des Objekts4. Insofern auch die definitio als bloße Synthesis von begrifflichen Merkmalen als solchen noch keine bejahende Hinbeziehung auf eine Sache an sich, keine "comparatio {88} vel applicatio ad rem" enthält, ist sie an sich noch ein incomplexum, es sei denn, sie enthalte implizit das Urteil der sachlichen Vereinbarkeit ihrer Merkmale oder die urteilende Hinordnung der Definition auf eine Sache an sich als auf eine von der Definition wirklich getroffene5. So versteht es sich von selbst, daß Wahrheit im eigentlichen Sinne, d. h. als erkannte Übereinstimmung mit dem Ansich der Sache, nur in den complexa, nicht aber in den incomplexa gegeben sein kann6. (Fs)
88a Aus dem Bisherigen schon ergibt sich, daß für Thomas das Urteil sich nicht in einer Synthesis von zwei Begriffen erschöpft1, sondern daß das eigentlich konstitutive Moment des Urteils die Hinbeziehung der konkretisierenden Synthesis von Subjekt und Prädikat auf die Sache selbst, die affirmative Synthesis ist. Durch sie wird auch erst die Wahrheit Merkmal des intellektuellen Vorgangs2. Wahrheit ist erst dort, wo das Gewußte auf das Ansich, das esse rei bezogen wird3, wo eine applicatio ad res gegeben ist4.
88b Inwiefern der Allgemeinbegriff mit seiner konkretisierenden Synthesis, das Urteil als affirmative Synthesis und die Wahrheit auch für Thomas selbst Anzeigen der reditio completa sind, die erst als grundlegender Vorgang des Denkens das in der Sinnlichkeit von ihr selbst ungeschieden hingenommene andere zum Gegenstand der Erfahrung macht, das muß sich aus dem ergeben, was über die innere Möglichkeit dieser reditio nach Thomas zu sagen sein wird. Doch ergibt sich schon aus dem Gesagten daß die Frage nach der Möglichkeit der reditio sachlich mit der Frage zusammenfällt, welches die apriorischen Bedingungen der Möglichkeit der affimativen Synthesis sind. Denn diese bietet zum erstenmal einen Gegenstand, von dem als dem Subjekt entgegenstehendem [eg: sic; entgegenstehenden?] dieses sein Wissen aussagt. Wahrheit ist nur ein anderer Titel für dieselbe Sache. Ibi primo invenitur ratio veritatis, ubi primo intellectus incipit aliquod proprium habere, quod res extra animam non habet1. In der Sinnlichkeit hat die Erkenntnis nichts für sich allein, weil sie mit der Sache identisch ist. Erst im Denken kehrt sie mit ihrem Wissen zu sich selbst zurück in einer Trennung von der res extra animam, und kann dadurch ihr Wissen auf die Sache beziehen und des Gelingens dieser Hinbeziehung sich bewußt sein, ein wahres Urteil {89}[Urteil] fällen. - Was zu Beginn dieses Paragraphen über die Hinbeziehung des in der abstractio gewonnenen Allgemeinbegriffes auf ein Diesda gesagt wurde, hat sich bei der Betrachtung des Urteils dahin geklärt, daß darin das Entscheidende für die Gegensetzung von Subjekt und Objekt nicht die konkretisierende Synthesis als solche allein ist, sondern die affirmative. (Fs) ____________________________
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