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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: desiderium naturale - Thomas; Naturverlangen - Argument für die Vernünftigkeit des Glaubens

Kurzinhalt: Wieso aber schließt dann Thomas von der Existenz des Naturverlangens auf die Erhebung? ... so ist gerade dieses Naturverlangen das stärkste rationale Argument, um die Vernünftigkeit des christlichen Glaubens nachzuweisen

Textausschnitt: 85b Aber ist dann der Mensch nicht zum Unglücklichsein verurteilt, weil er, so gedacht, ein Naturverlangen nach etwas hätte, um dessen Unstillbarkeit er weiß? Das ist keineswegs zwingend. Dieses Naturverlangen ist eben ein Verlangen der "Natur", aber nicht ein praktisches Streben. Zum Unglücklichsein verurteilt wäre in diesem Zustand nur der Mensch, der trotz seines Wissens um seine Endlichkeit dennoch das Unmögliche und ihm nicht Zustehende als praktisches Gut, als Ziel seines Handelns erstreben würde. Der Gegenstand des Naturverlangens kann ja nur aufgrund von Offenbarung, einer Verheißung Gottes selbst, vernünftigerweise zum praktischen Zielgut werden, und damit auch zum Gegenstand praktisch relevanten Strebens und Handelns1. Ohne die Offenbarung solcher Verheißung ist es dem Menschen unmöglich, vernünftigerweise sein freies Handeln darauf auszurichten, von Gott eine "übernatürliche" Glückseligkeit geschenkt zu erhalten; dies wäre geradezu Frevel. Frustriert wäre nur derjenige, dem es an Demut und damit an Vernunft mangelte; derjenige also, der sich mit der conditio humana nicht abfinden würde. "Demut" heißt ja nichts anderes, als die Wahrheit über die eigene Stellung anzuerkennen und dieser Wahrheit gemäß zu leben2. (Fs)

85c Wieso aber schließt dann Thomas von der Existenz des Naturverlangens auf die Erhebung? Und zwar mit dem Argument, ein solches Naturverlangen könne ja nicht "eitel und nichtig" sein? Die Schwierigkeit kann folgendermaßen gelöst werden1: Thomas sagt, dass dieses Naturverlangen eitel und nichtig wäre, wenn nicht die Möglichkeit der Erhebung bestünde. Da sie nun aber tatsächlich gegeben ist - wir wissen es aufgrund von Offenbarung -, so ist gerade dieses Naturverlangen das stärkste rationale Argument, um die Vernünftigkeit des christlichen Glaubens nachzuweisen. Thomas spricht hier also als Theologe, und zudem als Apologet: Das Naturverlangen nach Gottesschau wäre nur dann "eitel und nichtig", wenn es dem Menschen nicht möglich wäre, zur Gottesschau erhoben zu werden, bzw. wenn es Gott nicht möglich wäre, den Menschen dazu zu erheben, ohne damit auch die menschliche Natur zu verändern. Nicht aber ist es eitel und nichtig, auch wenn es besteht, wenn er faktisch nicht dazu erhoben wird. Dann hätte dieses Verlangen ganz einfach eine andere Funktion im menschlichen Leben. Es würde auf seine Weise den Menschen auf seinen Platz als endliches Wesen verweisen. Vergeblich wäre es auch dann nicht. Denn ohne den Intellekt, zu dessen Natur nun dieses Verlangen einmal gehört, wäre der Mensch ja gar nicht Mensch. Es hätte also zumindest den Sinn, dass der Mensch überhaupt das zu sein vermag, was er nun einmal ist: ein Mensch. Je nach dem begründet also das Naturverlangen zwei verschiedene Weisen des Menschen, sich zum Göttlichen zu verhalten. Im Falle von Offenbarung und Verheißung der Erhebung führt es zur Demut dessen, der in praktisch relevanter Weise sein freies Wollen darauf ausrichtet, sich von Gott ohne jegliches Verdienst beschenken zu lassen, im Wissen darum, dass er seine Erfüllung letztlich nur durch Gnade, nicht durch eigene Leistung erlangen kann. Das ist die christliche Perspektive der Demut. Im anderen Falle - jene des Ausbleibens einer solchen Verheißung - führt das Naturverlangen zur Demut und Selbstbescheidung essen, der in praktisch relevanter Weise sein freies Wollen darauf beschränkt, nur jenes Glück zu suchen, das ihm "als Menschen", als endliches Wesen eben zustehen kann. Und dies ist genau die "Aristotelische Demut", so dass Aristoteles uns jene Wahrheit über den Menschen zu sagen vermochte, die der nichtglaubenden Vernunft offen steht. Diese Wahrheit ist nun jene, die Gegenstand der philosophischen Ethik ist. (Fs)

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