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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Thomas, Glück: duplex felicitas; beatitudo ultima et perfecta - unvollkommenes Glück

Kurzinhalt: Unvollkommenes Glück ("duplex felicitas"): Das Glück des diesseitigen Lebens
(a) in erster Linie: Kontemplation
(b) in zweiter Linie: praktisches Leben gemäß der Vernunft

Textausschnitt: 79b Was bleibt nun übrig, wenn wir wissen, das der Mensch aus den Kräften seiner Natur nicht zu erlangen vermag, wozu er von Natur aus angelegt ist? Ist da eine nichttheologische Ethik überhaupt noch möglich? Und wenn ja: Kann sie für den Glaubenden überhaupt noch von Interesse sein? (Fs)

79c Zunächst: Was geschieht nun bei Thomas mit der Aristotelischen Lehre von der "duplex felicitas", der Lehre vom "zweistufigen" Glück? Thomas gibt darüber genau Rechenschaft: "Somit besteht die letzte und vollkommene Glückseligkeit, die wir im zukünftigen Leben erwarten, ganz und gar in der Kontemplation. Die unvollkommene, die man in diesem Leben erreichen kann, besteht vor allem und vorrangig in der Kontemplation; in zweiter Linie jedoch in der Tätigkeit des praktischen Intellektes, der die menschlichen Handlungen und Affekte ordnet, wie Aristoteles im Zehnten Buch der Nikomachischen Ethik sagt"1. Somit ergibt sich also Folgendes:
(1) Vollkommenes Glück ("beatitudo ultima et perfecta"):
Schau Gottes im kommenden Leben
(2) Unvollkommenes Glück ("duplex felicitas"): Das Glück des diesseitigen Lebens
(a) in erster Linie: Kontemplation
(b) in zweiter Linie: praktisches Leben gemäß der Vernunft

79d Wieso ist es möglich, das "unvollkommene Glück" wirklich Glück zu nennen? Aus der theologischen Gesamtsicht des Thomas ist das natürlich kein Problem. Es ist eben eine Stufe, die als diesseitiges Glück, noch unvollkommen, auf das vollkommene Glück des zukünftigen Lebens hinzielt; letzteres ist in der Hoffnung bereits gegenwärtig. Das unvollkommene Glück alleine gibt es dann ja gar nicht. Aber wenn es eine solche Perspektive des Vollkommenen, wie bei Aristoteles, nicht gibt? Dann, so ist zu sagen, gibt es immer noch Grund, dieses Unvollkommene Glück zu nennen. Und zwar deshalb, weil mit Glück eben das bezeichnet ist, was wir allein vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben können. Die Notwendigkeit einer Einschränkung auf das Bestmögliche, wie sie Aristoteles festhält, ist nun gerade vernünftig. Es ist vernünftig, sich auf ein Ethos der conditio humana als Antwort auf das Glücksverlangen des Menschen zu beschränken. (Fs)

80a Wir stellten ja die Frage nach dem Glück nicht, um herauszufinden, wie man am genussreichsten lebt. Hätten wir die Frage so gestellt, so müssten wir nun feststellen: Es ist dem Menschen nun einmal nicht möglich in diesem Leben glücklich zu sein. Denn ein zweitrangiges Glück ist gar kein echtes Glück, da es ja nicht alles Verlangen zu stillen vermag. Die Frage, die uns leitete, war jedoch, Orientierung für unser Handeln zu gewinnen: Was allein können wir eigentlich vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben? Worauf allein können wir eigentlich vernünftigerweise unser Leben als ein Letztes ausrichten? Auch wenn wir zur Antwort bekommen, dass das äußerste menschliche Seinkönnen letztlich gar nicht erreichbar ist, so haben wir doch eine sehr wesentliche Antwort erhalten: Wir wissen dann, welches falsche Hoffnungen sind. Ebenfalls wissen wir dann aber, dass es auch für das "Unvollkommene" klare Orientierung und Maßstäbe gibt: Das Leben gemäß dem "Besten in uns": das Leben gemäß der Vernunft. (Fs) (notabene)

80b Diese Aristotelische Perspektive wird nun in der Konzeption von Thomas gerade nicht überspielt, vielmehr wird sie gerechtfertigt und gestützt. Denn dieser Konzeption gemäß wissen wir ja, dass das vollkommene Glück möglich ist und erreicht werden kann. "Gemäß dem Besten in uns" zu leben, das wird hier gleichsam geradezu zur Vorbereitung und Bedingung für jenes, das einmal kommen wird. Das Interesse daran, jenes unvollkommene Glück dieses Lebens zu verstehen und seine Bedingungen zu klären, wird somit gerade aus theologischen Motiven gesteigert. (Fs)

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