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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Aristoteles: Anthropologie der Lust; Glück, Doppeldeutigkeit

Kurzinhalt: ... die Vollkommenheit von Lust, und damit ihr Gut - oder Schlechtsein hängt ab von der Vollkommenheit der Handlung, aus der sie folgt

Textausschnitt: 71d Um die Frage nach der besten Tätigkeit kommen wir also - gerade wenn wir eine richtige Anthropologie der Lust zugrunde legen - nicht herum. Die Frage nach der Lust ins Zentrum stellen, wie dies Aristoteles tut, bedeutet nicht, Hedonist zu sein, sondern einfach zu berücksichtigen, dass nun einmal die Vollendung jedes Strebens und Tuns das ihm eigentümliche Genießen ist. Daran ist ja nun gar nichts Kritikwürdiges, im Gegenteil. Es handelt sich hier um ein anthropologisches Faktum. Aristoteles zögert nicht, die Lust und das Genießen etwas Göttliches zu nennen, denn die Götter, so meint er, genießen ja am meisten. Und schöpfungsmetaphysisch dürfen wir sagen: Dass die Vollendung einer jeden Tätigkeit in einer Form von Lust oder, im Falle der geistigen Tätigkeiten, von Freude ist, das ist Teilhabe des Geschöpfes an göttlicher Vollkommenheit. Lust erleben ist Zeichen von Vollkommenheit. Der Mensch ist ein Wesen, das auf Freude hin angelegt ist. Und gerade deshalb ist die Theorie der Lust, wie Aristoteles erkannt hat, so ungemein wichtig für die Ethik. Aber die Vollkommenheit von Lust, und damit ihr Gut - oder Schlechtsein hängt ab von der Vollkommenheit der Handlung, aus der sie folgt; und von ihrer Angemessenheit für den, dem sie zuteil wird. (Fs) (notabene)

72a Um zu wissen, welche Lust gut ist, müssen wir also wissen, welche Tätigkeiten gut sind. Und um zu wissen, welches die beste Lust ist, müssen wir wissen welche die beste Tätigkeit ist. Dann wissen wir auch, worin das Glück zu finden ist. Denn Glück, beste Tätigkeit und höchste Lust fallen in eins. Und gerade deshalb auch vermag uns das Streben nach Lust, das Aus-sein auf Lusterlebnisse, gerade nicht glücklich zu machen, sondern nur zu desorientieren. Befriedigung als Handlungsziel anstreben ist die beste Weise, um das Glück zu verpassen. Was wir wissen müssen ist, welches die für den Menschen beste Tätigkeit ist. "Lust und Unlust", sagt Aristoteles, "sind darum notwendig die Angelpunkte unserer ganzen Theorie. Denn es ist für das Handeln von der größten Wichtigkeit, ob man in der rechten oder in der verkehrten Weise Lust oder Unlust empfindet"1. (Fs) (notabene)

72b Die beste Tätigkeit ist diejenige, an welcher der Tugendhafte Freude hat. Um sie zu bestimmen, dafür gibt uns Aristoteles' Argumentation den anthropologischen Schlüssel in die Hand, der nun eigentlich einleuchtend ist: "Was einem Wesen von Natur eigentümlich ist im Unterschied von anderen, ist auch für dasselbe das Beste und Genussreichste. Also ist dies für den Menschen das Leben nach der Vernunft, wenn anders die Vernunft am meisten der Mensch ist. Mithin ist dieses Leben auch das glückseligste"2, - in erster Linie das Leben der Theoria, der Kontemplation; in zweiter Linie das Leben gemäß den sittlichen Tugenden, das in der Ordnung unseres menschlichen Tuns und unserer Affekte als leib-geistige Wesen ein Leben gemäß der Vernunft ist. (Fs)

72c Doch irgendwie bleibt diese Antwort unbefriedigend und "durch eine tiefe Doppeldeutigkeit gekennzeichnet"3. Aristoteles ist der Letzte, der dies zu verschleiern sucht. Das Glück, von dem uns Aristoteles spricht, ist eine höchst prekäre Angelegenheit. Das "erstrangige" Glück wäre das Leben des Philosophen; wenigen ist es vergönnt, eine theoretisches Leben zu führen; und auch diese Wenigen müssen sich ja noch um manches kümmern, was auch sonst noch zum Leben gehört. Und das zweitrangige Glück scheint nicht minder unvollkommen als das erstrangige zu sein. Dazu kommt, dass es in hohem Masse vom Besitz äußerer Güter und vom "Glück", der tyche, abhängt. In der Tat ist die Aristotelische Position "unstabil"4, was jedoch m. E. gerade Teil ihrer Wahrheit ist (darauf wird zurückzukommen sein, wenn wir vom fragmentarischen Charakter aller philosophischen Ethik sprechen werden, sowie im Epilog.). Keineswegs bedeutet die Instabilität der Aristotelischen Position, dass sie eigentlich den "Kollaps der eudämonistischen Ethik" bedeutet und an die Stelle des Prinzips Glücks ein anderes Prinzip gesetzt werden sollte5. Denn die Wahrheit der Aristotelischen Auskunft über das Glück bleibt trotz ihres problematischen Charakters unangetastet. "Wir sollen, soweit es möglich ist, uns bemühen, unsterblich zu sein, und alles zu dem Zwecke zu tun, dem Besten, was in uns ist, nachzuleben. Denn wenn es auch klein ist an Umfang, so ist es doch an Kraft und Wert das bei weitem über alles Hervorragende"6. Und das Beste, das ist der "Gott in uns": Der Intellekt - bzw. die Vernunft -, der uns die "Dimension der Wahrheit, des Guten, des Heiligen, des Unbedingten" eröffnet, eine "Dimension, die verschwinden würde, wenn man sie als lebenspraktische Funktion im Dienste der Arterhaltung verstünde"7. (Fs)

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