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Autor: Rhonheimer, Martin

Buch: Die Perspektive der Moral

Titel: Die Perspektive der Moral

Stichwort: Aristoteles: das zweifache Glück, Anthropologie der Lust; Theorie, Schauen; duplex felicitas; die Lust als ein Ganzes

Kurzinhalt: Nach der formalen Bestimmung von Glück ... wird nun der Inhalt des Glücks ausgemacht als "der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele ...

Textausschnitt: 68a Nach der formalen Bestimmung von Glück als vollendetes und sich selbst genügendes Gut, dessen Erlangung allein das Leben begehrenswert macht, und das - weil es ja ein Gut sein muss, das auch tatsächlich erlangt werden kann - ein menschliches Gut zu sein hat (ein Gut des Menschen und im Menschen), wird nun der Inhalt des Glücks ausgemacht als "der Tugend gemäße Tätigkeit der Seele" und, sofern es mehrere Tugenden gibt, "der besten und vollkommensten Tugend gemäße Tätigkeit". Aristoteles fügt hinzu: "Dazu muss aber noch kommen, dass dies ein volles Leben hindurch dauert"1. (Fs)

68b Der Mensch zeichnet sich ja durch Vernunft aus. Sie ist ihm eigentümlich und durch sie unterscheidet er sich von anderen Lebewesen. Und demgemäß muss Glück in einer Tätigkeit der Seele bestehen, und zwar jenes Teils der Seele, die Vernunft besitzt, bzw. in den Tätigkeiten anderer Teile der Seele, aber unter der Herrschaft der Vernunft. Der Gedankengang erscheint zunächst nicht sehr befriedigend, weil nicht deutlich wird, weshalb denn nun solche Tätigkeit jenes ist, das wir allein vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben können. Dies wird erst im zehnten Buch der Nikomachischen Ethik deutlicher. (Fs)

68c Dort heißt es: "An sich begehrenswert aber sind die Tätigkeiten, bei denen man nichts weiter sucht als die Tätigkeit selbst"1. Die Tugenden des "politischen Lebens" - der Existenz in der menschlichen Gemeinschaft - formulieren keine Tätigkeiten, die um ihrer selbst willen erstrebt werden. Sie alle zielen auf etwas, das von diesem Leben selbst wiederum verschieden ist. Was man um seiner selbst willen sucht, ist eine Tätigkeit, die frei von Sorge, von Ermüdung, die voller Freiheit und Muße ist. Eine Tätigkeit die sättigt, ohne satt zu machen. Eine solche Tätigkeit ist allein die Betrachtung der Wahrheit, die Kontemplation (theoria). Sie ist eine Tätigkeit, die selbst nichts bringt, und doch alles bringt, weil allein sie um ihrer selbst willen vollzogen werden kann. Das Schauen birgt seine Erfüllung in sich. In der Eudemischen Ethik spricht Aristoteles sogar noch deutlicher von der "Betrachtung Gottes" als jenes Letzten, in dem allein menschliches Streben und Tun zur Ruhe gelangen2. (Fs) (EN X,6 1176b7) (notabene)

69a Dieses Glück und ein solches Leben der Theoria - fügt Aristoteles hinzu - scheint jedoch eher göttlich, als menschlich zu sein. Gott ist ja, gemäß dem zwölften Buch der Metaphysik, reine Intellektualität, die sich selbst schaut. Dennoch solle man nach diesem Göttlichen streben, denn der Verstand (nous) ist eben das Göttlichste und Beste in uns, und nach dem Besten sollen wir streben1. (Fs) (notabene)

69b Aber auch die übrigen Tugenden, die sittlichen, die wir im Bereiche des menschlichen Zusammenlebens (der Polis) verwirklichen, sind Tätigkeiten gemäß der Vernunft. Aristoteles folgert daraus, was den Aristoteles-Interpreten viel Kopfzerbrechen bereitet: "An zweiter Stelle ist dasjenige Leben glückselig, das der sonstigen Tugend gemäß ist"2. Es handelt sich hier um ein Glück menschlicher Art, das sich nun gerade nicht durch eine einzige Tätigkeit, sondern durch eine geordnete Vielfalt von Tätigkeiten gemäß der Vernunft auszeichnet: Ein Leben gemäß allen sittlichen Tugenden, das eben auch ein Tätigsein gemäß der Vernunft ist, dem Göttlichsten und Besten in uns. (Fs)

69c Das letzte Wort zum Thema bleibt damit: Glückselig ist ein Mensch, insofern und nur insofern er irgendwie an Theoria teilhat, insofern sein Leben durch Tätigkeit von Intellekt und Vernunft geprägt ist. Alles, was glücklich macht, kann dies nur, insofern es irgendwie mit Vernünftigkeit zu tun hat. In erster Linie das Schauen, das Betrachten dessen, was Gott selbst schaut (und das ist Gott selbst: denn Gott ist für Aristoteles noEsis noEseOs, reine Erkenntnistätigkeit, die sich im Akt des Erkennens ihrer selbst befindet); in zweiter Linie das Ausrichten von Affekten und Tun gemäß der Vernunft im menschlichen Leben der Polis. (Fs) (notabene)
69d Was verwundert, ist, dass es überhaupt so etwas wie ein zweitrangiges Glück geben kann. Das scheint dem Begriff von Glück als etwas Vollendetem gerade zu widersprechen. Die Aristotelische Lehre über die - wie sie später genannt wurde - duplex felicitas (das "zweifache Glück"), kann nur anthropologisch sinnvoll gedeutet werden. Und Aristoteles selbst gibt uns den Schlüssel zum Verständnis. (Fs)

69e Bis anhin blieb nämlich unerwähnt, dass die Lehre von der Glückseligkeit von EN X sich im Anschluss an den Traktat über die Lust befindet. Mehr noch, sie gehört eigentlich zu diesem Traktat und bildet dessen Höhepunkt. Aristoteles meint, die Glückseligkeit müsse zugleich das Lustvollste und Genussreichste sein. Lustvollkommenheit ist ein Indikator für Glücksvollkommenheit. Demnach sind Abstufungen möglich: "Mag es nun der Tätigkeiten des vollkommenen und glückseligen Mannes nur eine oder mehrere geben, so wird die sie vollendende Lust es sein, die man als die eigentlich und vorzügliche menschliche Lust zu erklären hat. Die übrigen Arten von Lust können dafür erst an zweiter und weiterer Stelle gelten, entsprechend den Tätigkeiten"1. (Fs)

69f Mit Lust und Genuss ist etwas angesprochen, was durchaus zur Eigenart des Letzten gehört: Die "Vollendung der Tätigkeit"2, das zum Ende Kommen und Ruhen des Strebens. Die Lust ist "ein Ganzes", sie ist ohne Dauer, weil zeitlos, unteilbar, ohne Werden. Aristoteles vergleicht die Lust mit dem Sehen: "Der Akt des Sehens scheint in jedem Zeitmoment vollendet zu sein"3. Jeder Sinn hat seine Lust; aber auch das Betrachten, die Theoria besitzt die ihr eigene Lust; wir nennen sie Freude: Sie ist eine besondere, geistige Art von Lust oder Genuss im Besitz des Geliebten. Aber gerade, weil es überall, wo es Tätigkeit gibt, auch Lust gibt, und alle Lust den Charakter des Letzten besitzt, vermag das Luststreben zu desorientieren. Wohlverstanden, es gibt auch geistige Genüsse und Freuden, die zu desorientieren vermögen. "Lust" ist hier ein Obergriff, der jegliches Genießen und Sich-freuen einschließt. (Fs)

70a Ist denn nun also Glücklichsein doch ein Zustand von Genusserlebnissen? Nicht ganz. Sicher ist, dass Glück ein genussreicher Zustand, oder besser: eine genussreiche, lustvolle Tätigkeit ist. Wenn aber Glück selbst wesentlich in der Lust bestehen würde, dann wäre es ja einerlei, wie wir Lust erhalten. Und zudem würde Glücklichsein-Wollen heißen, nach Lust oder Befriedigung zu streben. (Fs)

70b Falls wir beispielsweise der Meinung wären, im Anhören von Musik von Mozart sei der höchste musikalische Genuss zu finden, so werden wir, wenn wir eine CD von Mozart auflegen, dies dennoch nicht deshalb tun, weil wir nach einer bestimmten Art von Lusterlebnis streben. Könnten wir durch eine Apparatur erreichen, dass uns das entsprechende Lusterlebnis auch ohne das Anhören von Mozarts Musik vermittelt werden könnte, so würden wir das dennoch nicht wollen. Denn was wir wollen, ist Mozarts Musik hören, nicht das Befriedigungserlebnis, das damit verbunden ist. Was wir wollen ist ein bestimmtes Tun (hier: das Hören von Mozarts Musik). [...]

70c Darin liegt nun gerade die Pointe: Was wir immer erstreben oder wollen, ist ein praktisches Gut, eine Tätigkeit (z.B. Musik-Hören), und nicht die Befriedigung, die aus diesem Gut oder aus dieser Tätigkeit folgt. Das Glück erstreben heißt, jene Tätigkeit zu erstreben, die unser Streben sättigt, befriedigt und die deshalb im höchsten Maße lustvoll ist. Denn unser Streben ist nicht gesättigt, weil wir genießen, sondern wir genießen, weil das Streben gesättigt ist. Deshalb heißt "glücklich sein wollen" nicht "Lusterlebnisse erstreben", und dann zu fragen, durch welche Art von Tätigkeit wir sie am besten erlangen können. Die Frage nach dem Glück ist vielmehr die Frage nach jener Tätigkeit die wir allein vernünftigerweise um ihrer selbst willen erstreben können, weil wir wissen, dass nur jenes, was wir vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben auch das im höchsten Sinne oder eben vollkommen Lustvolle ist. Und dies eben deshalb, weil nur, was wir vernünftigerweise um seiner selbst willen erstreben, unser Streben zum Ende bringen, sättigen kann, weil ja unser Streben "Wille", d.h. vernünftiges Streben ist. (Fs) (notabene)

70d Gerade weil wir auf Tätigkeit, und nicht auf Genuss aus sind, scheint es uns auch einleuchtend, wenn Aristoteles sagt, "niemand möchte leben, wenn er immer nur den Verstand eines Kindes haben und alles, was den Kindern Freude macht, im höchsten Maße genießen sollte; und niemand möchte eine Freude haben um den Preis einer sehr schimpflichen Handlung, auch wenn ihm aus derselben niemals eine Unlust erwachsen sollte"1. (Fs)

71a Die Lust entgleitet uns immer gerade dann, wenn wir sie direkt intendieren. Das Ergebnis ist Frustration und Unfähigkeit zur Freude2. Auf der Ebene des sinnlichen Strebens ist das ja schon völlig eindeutig: Der Appetit wird angeregt nicht durch das Vorstellen von Lusterlebnissen, sondern durch die Vorstellung dessen, was solche Erlebnisse hervorrufen kann. Kein sinnliches Streben richtet sich auf das Erleben von Lust. Der Sehsinn wird nicht durch die Vorstellung des Genießens von Farbharmonien in aktualisiert, sondern durch Farben oder farbige, gestaltete Gegenstände. Lust als Gegenstand einer Intention ist bereits eine intentio obliqua. Deshalb können nur Menschen, nicht aber Tiere, sich hedonistisch verhalten. (Fs) (notabene)

71b Nun nennen wir "Wille" jenes Streben, das der Vernunft folgt. Die Vernunft hat jedoch nicht Freuden zum Gegenstand, sondern Güter, und zwar praktische Güter, also Tätigkeiten bzw. Handlungsinhalte, über die man sich freuen kann. Wir können zwar unsere Intentionen direkt auf Lusterlebnisse richten. Aber dann werden wir sicher nicht finden, was wir intendieren. Es ist der beste Weg, um das wahrhafte Genießen zu verpassen. (Fs)

71c Wahre Freude erreicht man ja oft nur auf Umwegen, d.h. gerade nur insofern man eben das tut, was gut ist, ohne dabei an die Befriedigung zu denken. Wenn auch die beste Tätigkeit die Lustvollste ist, so ist sie unter den konkreten Bedingungen, unter denen wir sie vollziehen oder erstreben, oft nicht die Lustvollste. Das liegt daran, dass eine sinnliche Unlust (z.B. Schmerz, Mühe) im Augenblick überwiegen kann und die Freude sich erst einstellt, wenn man trotz Unlust das Gute tut. So lesen wir bei Aristoteles: "Auch liegt uns manches sehr am Herzen, das für uns keine Lust im Gefolge hat, wie Sehen, Gedenken, Wissen, Besitz der Tugenden. Führen diese Dinge notwendig einen Genuss und eine Befriedigung mit sich, so macht das nichts aus. Denn wir würden sie auch dann begehren, wenn keine Lust aus ihnen flösse"1. Auch der Hedonist J. S. Mill musste zugeben, dass es besser ist, ein unbefriedigter Mensch als ein befriedigtes Schwein, ein unbefriedigter Sokrates, als ein befriedigter Dummkopf zu sein2. Das Problem seiner Theorie ist, dass sie nicht zu erklären vermag, was hier eigentlich mit "besser" gemeint ist. (Fs)


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